Der Zug War Pünktlich
noch über einem Hügel und leuchtet sehr warm und mild in Gärten hinein, die hinter schönen Villen liegen, und leuchtet auf die Dächer der Villen. Die Äpfel müssen jetzt geerntet werden, denkt Andreas, es ist Ende September, auch hier werden die Äpfel reif sein. Und in Tscherkassy ist wieder
ein Kessel zu, und die »Kesselflicker« werden es schon schmeißen. Alles wird geschmissen, alles wird geschmis- sen, und ich sitze hier an einem Fenster in einem Bordell, im »Stempelhaus«, wo ich nur noch zwölf Stunden zu le- ben habe, zwölfundeinehalbe Stunde, wo ich beten müßte, beten, auf den Knien liegen, aber ich bin machtlos gegen diese Schleuse, die nun geöffnet ist, aufgestoßen von dem Dolch, der mich unten im Entree durchbohrt hat: Musik. Und es ist gut, daß ich nicht die ganze Nacht allein mit diesem Klavier sein werde. Ich würde ja verrückt, gerade ein Klavier. Ein Klavier. Es ist gut, daß Olina kommen wird, die »Opernsängerin«. Die Landkarte habe ich ver- gessen, denkt er, die Landkarte! Ich habe vergessen, sie dem Blonden abzufragen, ich muß unbedingt wissen, was vierzig Kilometer hinter Lemberg ist … unbedingt … es ist doch nicht Stanislau, nicht einmal Stanislau, nicht einmal bis Stanislau werde ich kommen. Zwischen Lemberg und Czernowitz … wie sicher ich noch erst an Czernowitz ge- dacht habe! Erst hätte ich darauf gewettet, daß ich Czerno- witz noch sehen würde, einen Stadtrand von Czernowitz … nun nur noch vierzig Kilometer … noch zwölf Stunden …
Er erschrickt furchtbar von einem sehr leisen Geräusch, als sei eine Katze ins Zimmer gehuscht. Die Opernsänge- rin steht vor der Tür, die sie leise hinter sich zugezogen hat. Sie ist klein und sehr zart, zierlich und fein und sie hat hinten hochgeknotetes, sehr schönes, blondes, loses Haar, goldenes Haar. Rote Pantoffeln hat sie an den Füßen, ein blaßgrünes Kleid. Sobald ihre Blicke sich getroffen haben, macht sie eine Geste zur Schulter hin, als wolle sie flink ihr Kleid öffnen …
»Nein«, schreit Andreas, und im gleichen Augenblick bereut er, daß er sie so hart angeschrien hat. Schon einmal
habe ich eine so laut angebrüllt, denkt er, und es ist nicht ungeschehen zu machen. Die Opernsängerin blickt ihn weniger beleidigt als erstaunt an. Der seltsam schmerzli- che Ton in seiner Stimme hat sie getroffen. »Nein«, sagt Andreas sanfter, »nicht.«
Er geht auf sie zu, geht wieder zurück, setzt sich, steht wieder auf, und er fügt hinzu: »Ich darf doch du sagen?«
»Ja«, sagt sie sehr sanft, »ich heiße Olina.«
»Ich weiß«, sagt er, »ich heiße Andreas.«
Sie setzt sich auf den Sessel, den er ihr gezeigt hat, blickt ihn verwundert, fast ängstlich an. Dann geht er zur Tür und dreht den Schlüssel um. Neben ihr sitzend, sieht er jetzt ihr Profil. Sie hat eine feine Nase, die weder rund noch spitz ist, eine Fragonardnase, denkt er, auch einen Fragonardmund. Sie sieht fast verworfen aus, aber sie kann ebensogut unschuldig sein, so unschuldig-verworfen, wie diese Fragonardschäferinnen, aber sie hat ein polni- sches Gesicht, einen polnischen, biegsamen, sehr elemen- taren Nacken.
Es ist gut, daß er die Zigaretten eingesteckt hat. Aber er hat kein Zündholz mehr. Sie steht schnell auf, öffnet einen Schrank, der mit Flaschen und Schachteln vollgestopft ist, und nimmt Zündhölzer heraus. Bevor sie sie ihm gibt, schreibt sie etwas auf einen Bogen Papier, der im Schrank liegt. »Ich muß alles aufschreiben«, sagt sie wieder mit sanfter Stimme, »auch das.«
Sie rauchen und blicken in die goldene Landschaft mit den Lemberger Gärten hinter den Villen.
»Du bist Opernsängerin gewesen?« fragt Andreas.
»Nein«, sagt sie, »sie nennen mich nur so, weil ich Mu- sik studiert habe. Sie meinen, wenn man Musik studiert hat, ist man Opernsängerin.«
»Du kannst also nicht singen?«
»Doch, aber Gesang habe ich nicht studiert, singen kann ich nur … nur so.«
»Und was hast du studiert?«
»Klavier«, sagt sie ruhig, »ich wollte Pianistin werden.« Seltsam, denkt Andreas, und ich, ich wollte Pianist wer-
den. Ein wahnsinniger Schmerz drückt ihm das Herz zu- sammen. Ich wollte Pianist werden, es war der Traum meines Lebens. Ich konnte schon ganz nett spielen, ganz gut, aber die Schule hing wie ein Bleiklotz an mir. Die Schule hinderte mich. Erst mußte ich Abitur machen. Je- der Mensch in Deutschland muß erst Abitur machen. Nichts gibt es ohne Abitur. Die Schule mußte ich erst hin- ter mir haben, und
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