Der Zug War Pünktlich
geöffnet: er wird bleich und wankt und stützt sich an die Wand. Musik
… ein Fetzen Schubert … zehn Jahre meines Lebens wür- de ich dafür geben, wenn ich noch einmal ein ganzes Schubertlied hören könnte, aber ich habe nur noch zwölf- dreiviertel Stunden, es ist jetzt sicher fünf.
»Sie«, fragt die ältliche Frau, deren Mund scheußlich ist. Er sieht das jetzt, es ist ein schmaler, verengter Schlitz- mund, der nur Geld kennt, ein Sparbüchsenmund. »Sie«, fragt die Frau erschreckt, »Sie wollen nichts?«
»Musik«, stammelt Andreas, »kann man hier auch Mu- sik kaufen?« Sie blickt ihn verwirrt an, sie zögert. Alles hat sie gewiß schon verkauft. Stempel und Mädchen und Pistolen, dieser Mund ist ein Mund, der mit allem handelt, aber sie weiß nicht, ob man Musik verkaufen kann.
»Ich«, sagt sie verlegen, »Musik … gewiß.«Es ist auf jeden Fall gut, erst einmal ja zu sagen. Nein kann man immer noch sagen. Wenn man gleich nein sagt, dann ist kein Geschäft mehr zu machen.
Andreas hat sich wieder aufgerichtet. »Verkaufen Sie mir Musik?«
»Nicht ohne Mädchen«, lächelt die Frau.
Andreas blickt Willi gequält an. Er weiß nicht, was das kosten wird. Musik und ein Mädchen dazu, und es ist selt- sam, daß Willi den Blick gleich versteht. »Kumpel«, ruft er, »denk an die Hypothek, es lebe die Lemberger Hypo- thek, alles gehört uns.«
»Gut«, sagt Andreas zu der Frau, »ich nehme Musik und ein Mädchen.« Die Tür ist von drei Mädchen geöffnet worden, die lachend im Flur stehen und der Verhandlung zugehört haben, zwei schwarze und eine rothaarige. Die Rothaarige, die Willi wiedererkannt hat und an seinem Hals liegt, ruft der Alten zu: »Verkauf ihm doch die
›Opernsängerin‹.« Die beiden Schwarzen lachen, und eine von den Schwarzen hat sich den Blonden genommen und ihre Hand auf seinen Arm gelegt. Der Blonde schluchzt bei dieser Berührung, er knickt zusammen wie ein Stroh- halm, und die Schwarze muß ihn packen und festhalten und muß ihm zuflüstern: »Keine Angst, mein Junge … nur keine Angst!«
Es ist eigentlich schön, daß der Blonde schluchzt, An- dreas möchte auch weinen, der Inhalt der Schleuse drängt sich gewaltsam nach vorne, wo die Wand durchstoßen ist. Endlich werde ich weinen können, aber ich werde nicht weinen vor diesem Sparbüchsenschlitzmund, der nur Geld kennt. Vielleicht werde ich bei der »Opernsängerin« wei- nen.
»Ja«, sagt die Schwarze, die übriggeblieben ist, schnip- pisch, »wenn er Musik will, dann schick ihm die Opern- sängerin.« Sie wendet sich ab, und Andreas, der immer noch an die Wand gelehnt ist, hört, wie wieder die Tür ge- öffnet wird, und wieder bekommt er einen Fetzen Musik zu hören, aber es ist nicht Schubert … es ist irgend etwas von Liszt … auch Liszt ist schön … auch Liszt könnte mich weinen machen, denkt er, ich habe dreieinhalb Jahre nicht mehr geweint …
Der Blonde liegt wie ein Kind an der Brust der einen Schwarzen und weint, und dieses Weinen ist gut. Nichts mehr von Ssiwasch-Sümpfen in diesem Weinen, nichts
mehr von Schreck, und doch viel Schmerz, viel Schmerz. Und die Rothaarige, die ein gutmütiges Gesicht hat, sagt zu Willi, der sie um die Taille gefaßt hält: »Kauf ihm die Opernsängerin, er ist süß, ich finde ihn einfach süß mit seiner Musik.« Sie wirft Andreas eine Kußhand zu: »Er ist jung und süß, du alter Knabe, und du mußt ihm die Opern- sängerin kaufen und ein Klavier …«
»Die Hypothek, die ganze Lemberger Hypothek gehört uns«, ruft Willi.
Die ältliche Frau hat Andreas die Treppe hinaufgeführt, einen Gang entlang, an dem viele verschlossene Türen sind, in einen Raum, der einige bequeme Sessel, eine Lie- gestatt und ein Klavier hat …
»Das ist eine kleine Bar für intime Feiern«, sagt sie, »die kostet die Nacht sechs Scheine, und die Opernsängerin – das ist ein Spitzname, verstehen Sie? Die Opernsängerin kostet die Nacht zweiundeinhalb Scheine, ohne das, was Sie verzehren wollen.«
Andreas taumelt in einen der Sessel, er nickt nur, winkt ab, und er ist froh, daß die Frau geht. Er hört, wie sie im Flur ruft: »Olina … Olina …«
Ich hätte nur das Klavier mieten sollen, denkt Andreas, nur das Klavier, aber dann schaudert ihn, daß er überhaupt in diesem Haus ist. Er rennt verzweifelt zum Fenster und reißt den Vorhang auf. Draußen ist es noch hell. Warum diese künstliche Dunkelheit, es ist der letzte Tag, den ich sehe, warum ihn verhängen? Die Sonne steht
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