Der zugeteilte Rentner (German Edition)
blieben die Kilos die gleichen. Nichts änderte sich. Nur der Stuhl auf dem er saß schien noch kleiner als beim letzten Mal.
Clara fand ihn sofort. Er saß als letzter in der hinteren Ecke des Raumes auf einem kleinen Stuhl und stützte sich auf seine Ellbogen. Fast regungslos wie eine Statue verharrte er in dieser Position. Erst als der letzte den Raum verließ, erst als er sie bemerkte, taute er auf.
„Was machst du denn hier?“
Doch was hätte sie ihm alles sagen sollen? Sie hatte ihn zu unrecht verdächtig, aber daran trug Maximilian die Schuld. Sie packte Finn am Hemdkragen. Ohne sich zu beschweren, ließ er sich das gefallen.
„Du bist nicht mehr sauer auf mich? Ich glaube, ich weiß jetzt, wie der Slip in meine Jacke kam. Ein Freund, der mich ein paar Stunden vorher besuchte –“
Doch Clara legte ihren Finger auf seine Lippen und Finns Worte verstummten.
„Sei einfach still und pack deine Sachen.“
Zuerst ein entsetztes Gesicht, aufgerissene Augen, dann ein Lächeln. Es gefiel Clara, wie sie Finn verunsicherte. Er sprang vom Stuhl auf, dann von einem Bein aufs andere, fuchtelte mit den Händen in der Luft herum und wusste gar nicht, was er sagen sollte.
Clara zog Finn hinter sich her. Vielleicht war die Zeit gekommen, die Meinung zu ändern und neue Wege zu gehen. Sie wünschte sich immer eine Familie, etwas, das ihr im Leben Halt schenkte, aber weder ihr Vater, noch ihre Mutter gab ihr das. Sie befand sich allein in der Welt und sie wusste das. Die behütete Zeit gehörte endgültig der Vergangenheit an. Entscheidungen traf sie jetzt alleine und für Fehler stand sie auch selbst ein.
Oft dachte sie an die Momente in ihrer Kindheit zurück, als sich noch alles im Gleichgewicht befand. Sie ging mit ihren Freundinnen spielen, und wenn sie abends zurückkam, schaute sie ihre Lieblingssendung, aß noch etwas und ging dann zu Bett. In dieser Zeit gab es keine Zukunftsängste, sie lebte im Jetzt, in der puren Essenz der Gegenwart. Doch ihre Kindheit existierte nur noch als Erinnerung. Den Raum, den sie zum Leben brauchte, schaffte sie sich selbst. Keine Eltern, die ihr den Weg wiesen oder Rückhalt gaben. Jetzt musste sie kämpfen und manchmal war es gut, jemanden an der Seite zu haben, der sie unterstützte – einen Partner, einen Buddy, einen Companero, einen Freund, ein Sidekick, ein Assistent. Und je mehr Unterstützung man hatte, desto besser war es – das Prinzip einer Familie, Menschen, die für einander einstanden, ganz gleich, was sie erwartete. Das Leben stellte ihr ständig ein Bein. Familien konnten das lindern. Sie verhielten sich wie Airbags des Alltags: Ein Streit am Arbeitsplatz – und die Familie fing sie auf. Das Auto gegen einen Baum gefahren – und die Familie half. In so einer Gemeinschaft konnte das Leben einfacher sein. Alle für einen, einer für alle. Waren das nicht Werte, die schon immer galten? Waren die drei Musketiere nicht auch eine kleine Familie? Waren Mowgli, Baloo der Bär und Bagheera nicht auch ein starkes Team? Und Batman, Robin und Alfred? Sie alle bildeten Zweckgemeinschaften und somit Familien.
Am liebsten hätte sie Maximilian aus dem Fenster geworfen. Aber irgendwie wurde er ein Teil ihrer Familie, ohne, dass sie es merkte – genauso wie Finn. Vielleicht bildeten sie eine eigenartige Truppe wie die Bremer Stadtmusikanten, vielleicht würde man sich über sie lustig machen oder hinter ihrem Rücken tuscheln. Vielleicht würde das alles auch gar nicht funktionieren. Doch bei einer richtigen Familie wusste man das auch nicht. Dafür gab es weder eine Gewähr, noch ein Umtauschrecht. Verlieren konnte sie nichts.
„Bekomme ich keinen Kuss?“, meinte Finn, als er ihr aus dem Raum folgte.
Clara hätte nie gedacht, dass Maximilian zu etwas nütze wäre. Aber als er ihr anbot, mit ihrem Professor zu reden, akzeptierte sie seinen Vorschlag. Ein Telefonanruf, ein Gespräch unter alten Männern, sie plauderten über alles, nur nicht über irgendwelche Prüfungen oder das Studium an sich. Es war wie ein Wiedersehen alter Freunde. Sehr vertraulich. Am Ende fiel nur ein kurzer Satz, ob Clara die Prüfung irgendwie doch noch bestehen könnte. Lindberg dachte nicht lange darüber nach. Sofort erklärte er sich einverstanden. Anscheinend reine Formsache. Die Beisitzer während der Prüfung schuldeten ihm sowieso einen Gefallen. Da ließ sich leicht etwas korrigieren. Ein paar Punkte hier, ein paar Punkte da. Eine einfache Sache. Und niemand musste dafür seinen Körper
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