Der zugeteilte Rentner (German Edition)
Stuhl neben der Medikamentausgabe. Es war der Kleine Tommy. Sein alter Freund aus dem Park. Wie kam er hierher?
Maximilian rüttelte an seiner Schulter und Tommy hob langsam seinen Kopf.
„Wieso bist du hier?“
Doch Tommy schwieg. Er blickte durch Maximilian hindurch, so als wäre er ein Geist, eine Erinnerung von früher. So groß waren seine Augen noch nie, die Pupillen erweitert, der Mund halb offen. Nichts verband die Person mit dem allseits bekannten Kleinen Tommy. Lediglich seine Hülle saß auf dem Stuhl.
„Der Herr Zapalac braucht jetzt seine Ruhe!“, hörte er eine Schwester sagen. „Er darf sich nicht aufregen!“
Tommy senkte seinen Kopf, ließ die Arme baumeln, sackte in sich zusammen und fiel sofort in einen tiefen Schlaf.
Nach dem Essen mussten alle wieder auf ihre Zimmer. Dann wurde abgeschlossen; zur Sicherheit der Patienten, obwohl in den Jogging-Anzügen versteckte Galileo-Ortungssender steckten. Bis auf einen Meter genau ließ sich so der Aufenthaltsort feststellen, inklusive dazugehörigem Satellitenbild – sofern die Sonne schien. Aus versicherungstechnischen Gründen verlangten sie es. Dann erschienen die Pfleger. Wer nicht lief, wurde auf sein Zimmer gefahren. Anschließend zählten sie durch, zwei fehlten. „Exitus“, notierte eine Pflegerin, nahm die Namensschilder an den Türen heraus und drehte sie rum. Auf die weißen Rückseiten zeichnete sie ein schwarzes Kreuz und steckte die Papiere zurück in die Halterungen. X bedeutete Räumen. X stand für Kisten aus dem Lager holen und alles einpacken, was nicht zur Ausstattung gehörte. Eine Stunde später zog bereits der nächste ein. „Nr. 1423 G. P. (m)“ stand drauf – das geklammerte „m“ kennzeichnete ihn als männlich, manchmal sah man das nicht auf Anhieb. Menschen verloren im Alter oft nicht nur ihre Identität, sondern auch die Sexualität. Für das Pflegepersonal änderte sich nichts, jeder wurde hier gleich behandelt, gleich gewaschen, gleich versorgt.
Eine Flucht vor diesem Alltag gab es nicht. Nicht einmal die Zimmer boten eine Rückzugsmöglichkeit, um sich zu verstecken. Dafür waren sie zu ungemütlich. Weder Teppiche, noch Gardinen schmückten die Räume. Ein Fernseher fehlte ebenfalls und selbst wenn: Maximilian fand keinen Spaß mehr daran. Er fühlte wie er alterte, selbst die Bücher überlebten hier nicht lange und zerfielen zu Staub. Dafür lag in jedem Raum eine Ausgabe der Bibel, extra mit abwaschbaren Seiten. Maximilian las sie bereits zum zweiten Mal. Viele Rentner sahen in ihr so etwas wie die „Herr der Ringe“-Trilogie. Die meisten starben beim Versuch, das Buch zum siebten Mal zu lesen.
Maximilian hielt sich nie gern in seinem Zimmer auf. Er teilte es mit einem 90jährigen Mann – Nr. 1466 nannten sie ihn, aber auf der Innenseite seiner unbenutzten Pantoffeln stand M. Jäger. Aber viel zum Laufen bekam er nicht. Das Bett ließ ihn nicht los. Offene Stellen übersäten seinen Körper, stellenweise schauten die Knochen heraus, alles zersetzte sich. Er war froh, wenn er für eine Stunde Schlaf fand und die Schmerzen vergaß.
Schlimmer als sein Wehklagen, war nur der Geruch. Es roch nach Verwesung, manchmal so stark, dass Maximilan sich die Decke über den Kopf zog und die Nächte schlaflos verbrachte. Dann zog er einen Deostift hervor und parfümierte seine Nase ein. Nur so ließ es sich für ein paar Stunden aushalten. Der Grund des Geruchs war allen bekannt: Die Verbände, die den Mann mumifizierten waren gelb und krustig, selten gewechselt. Der Tod war unausweichlich und keiner tat etwas dagegen. Die Pfleger schüttelten immer den Kopf, wenn sie das Zimmer betraten. Kein Wunder: Auf dem Namensschild vor der Tür stand unter Nr. 1466: De, Po, Öd, Hä, In und Di. Was übersetzt bedeutete: Dekubitus, Polyarthritis, Ödeme, Hämatome, Inkontinenz und Diabetes. Das ganze Leidensprogramm, Exitus inklusive.
Maximilian saß auf einem Stuhl und schaute aus dem Fenster, so wie jeden Tag. Er hatte gehofft, noch einmal Tommy zu treffen. Aber als er aber nach ihm fragte, antwortete man, dass Tommy das Altenheim verlassen hätte – angeblich kam am Vorabend seine Tochter, um ihn abzuholen. Doch das sagten sie meistens, es stimmte nie. Von ein paar Heimbewohnern erfuhr er, dass ein großer breitschultriger Mann einen Aufstand verursacht hätte. Sie nannten ihn nur den Eichhörnchen-Mann, weil er ständig in den Park wollte, um Eichhörnchen zu füttern. Beim Versuch ein Fenster einzuschlagen und zu fliehen
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