Der zugeteilte Rentner (German Edition)
konnte nicht lange überlegen. Carla stoppte bereits das erste Elektromobil und zog einen alten Mann von seinem Sitz. Maximilian machte es ihr gleich. Er eilte nach vorne und stieß eine Rentnerin von ihrem Sitz. Etwas zu kräftig, wie er feststellte. Die Frau flog von ihrem Fahrzeug und konnte gerade noch im letzten Augenblick von einem der herbei eilenden Pfleger aufgefangen werden.
„Tschuldigung!“
Dann brausten die beiden mit den Elektromobilen davon. Die Fahrzeuge besaßen zwar nur einen kleinen Motor, erreichten aber dennoch eine ordentliche Geschwindigkeit. Zumindest genügte es, einem Pfleger davon zu eilen und einen anderen umzufahren – nur durch einen Sprung zur Seite vermied er den Zusammenstoß. Jetzt waren sie Gesetzlose, Altenheim-Easy-Riders,. Wäre der Einkaufskorb mit Gemüse nicht gewesen, hätte Clara sich noch stärker gefühlt.
Maximilian folgte ihr auf dem zweiten Elektromobil. Sein Gesicht verzerrte sich zu einer Maske der Freude und des Schreckens. So wie er Clara sah, schreiend und querfeldein-fahrend ängstigte ihn das. In ihr steckten Kräfte, die besser nicht frei gesetzt werden sollten.
„Wo bleiben Sie? Geben Sie Gas!“
Der alte Wachmann am Haupttor sah die beiden auf sich zukommen. Er zögerte, wusste nicht, wie er reagieren sollte. Insassen, die mit Elektromobilen einen Fluchtversuch unternahmen, gab es sonst nie. Meistens waren es verwirrte Rentner, die sich verliefen und die man einfach am Arm nahm und zurückführte. Oder ein Autofahrer, der unerlaubt auf dem Gelände parken wollte. Eigentlich konnte der Wachmann sowieso nichts machen. Zu seiner Ausrüstung zählte nur eine Trillerpfeife, keine Pistole, selbst der beantragte Schlagstock oder das Pfefferspray wurden aus Kostengründen abgelehnt.
Clara gab Gas, hupte und brüllte. Der Wachmann starrte die beiden nur an, machte einen Schritt zur Seite und ließ sie passieren. Es gab keinen Grund, sich umfahren zu lassen. In seinem Alter musste man auf seine Knochen aufpassen. Außerdem war das Altenheim selbst schuld. Man hätte seinem Wunsch nach einer Pistole entsprechen können. Dann wäre das nicht passiert. Dann hätte er ihnen die Reifen platt geschossen.
Sie kamen zu spät. Da sich keine Gäste einfanden, hatte man beschlossen, die Beisetzung vorzuziehen. Maximilian sah nur noch, wie sie den Sarg in den Ofen schoben und die Tür verriegelten. Er hatte sogar Blumen gekauft: Nelken. Er wollte sie in den Sarg legen, bevor sie den Deckel schlossen.
„Markus Uhland?“, keuchte Clara und zeigte auf den Hochofen. „Ist das Markus Uhland?“
Der Bestatter nickte. Er war ein hagerer Kerl mit eingefallenem Gesicht, eigentlich sah er mehr wie ein armer Künstler aus. Selbst der dunkelblaue Anzug widersprach seiner Person.
Clara war nicht schnell genug gewesen. Obwohl sie mindestens drei rote Ampeln ignoriert hatten, kamen sie zu spät. Ein bisschen fühlte sie sich wie Bonnie und Clyde, zumindest kurz bevor man sie erschoss.
Maximilian hätte es viel bedeutet, seinen Bruder noch einmal zu sehen und die Blumen in den Sarg zu legen. Diesen Gefallen hätte sie ihm gerne getan. Jetzt stand er vor ihr. Dasselbe traurige Gesicht wie im Altenheim, die Augen fast geschlossen, die Arme baumelten an ihm herunter.
„Ich wusste nicht“, begann der Bestatter. „welche Religion der Verstorbene vorzog. Ich habe unseren Buddhisten kommen lassen. Den haben wir häufig. Der bietet auch Mantra-Singen für die Angehörigen der Verstorbenen an.“
Der Bestatter sagte das in einem unglaublich tiefen und traurigen Ton, doch statt der Anteilnahme schwang Lebensmüde und Langweile mit. Jedes Wort bekam die gleiche Betonung, keine Tiefen, keine Höhen, wie eine Schreibmaschine auf der jemand mit zwei Fingern tippte.
„Ich glaube“, sagte Maximilian. „Ein Buddhist hätte ihm gefallen.“
„Es war sehr schön gewesen. Wir hatten auch einen Orgelspieler.“
„Was hat er gespielt?“, sagte Clara.
„Ave Maria!“
Das letzte Mal, als Clara diese Arie hörte, stand sie in einer neu eröffneten Kaufhaus-Passage. Die Verantwortlichen meinten, dass die Musik zum Inventar passte – klassisch und doch modern. Warum Ave Maria zum Buddhismus passte, konnte sie sich nicht erklären.
„Das Lied wird von vielen gewünscht.“
Der Mann putzte seine Hände an der Jacke ab, dann griff er in eine Innentasche und holte seine Visitenkarte heraus.
„Event-Manager! Wir bezeichnen uns jetzt nicht mehr als Bestatter, sondern als Event-Manager. Unsere Kunden schätzen
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