Der zweite Gral
zerfraßen die Flammen das Papier. Anschließend stellte Tanaka sich wieder ans Fenster.
Die nächsten zwanzig Minuten verliefen ereignislos. Tanaka wartete und lauschte dem endlosen Plätschern. Die Frau schien ihr Bad zu genießen. Als sie wieder ins Wohnzimmer kam, war sie in ein Handtuch gehüllt. Im Schlafzimmer zog sie sich rasch an. Dann kramte sie unter dem Bett einen Koffer hervor und machte sich ans Packen.
Sie will verschwinden, dachte Tanaka. Verflixt und zugenäht! Mädchen, du bist doch noch nicht mal eine Stunde hier!
Mit geübten Griffen packte jetzt auch Tom Tanaka seine Sachen zusammen. Das bisschen Kleidung, das er bei sich hatte, befand sich in einer Sporttasche neben dem Bett. Er musste sich also nur noch um die Ausrüstung kümmern. Und die hatte er bereits hunderte Male auf- und abgebaut. Binnen kürzester Zeit war der Japaner bereit zum Aufbruch.
Er warf einen letzten Blick durchs Fenster. Lara Mosehni hielt sich noch immer in ihrer Wohnung auf. Sehr gut. Er wollte die Frau nicht verlieren. Immerhin verfolgte er sie schon seit acht Wochen. Sie war die einzige Spur, die er hatte.
9.
Freitag, Schottische Highlands
E mmet Walsh fühlte sich verspannt, wie so oft, wenn er nach einer Mission zurückkehrte. In Afrika war es besonders anstrengend gewesen. Tagsüber nichts als Hitze und Staub, nachts empfindliche Kühle. Ein Land der Extreme. Zwei Monate lang hatte Emmet abwechselnd geschwitzt und gefroren und dabei zahllose Entbehrungen auf sich genommen. Allein die Erinnerung ließ ihn schaudern.
Aber vielleicht lag es auch gar nicht an Afrika. Vielleicht lag es einfach daran, dass er allmählich alt wurde. Zu alt. Ein niederschmetternder Gedanke, den er gar nicht erst vertiefen wollte.
Er schloss einen Moment lang die Augen, öffnete sie dann wieder und versuchte, sich die Rückkehr in die Heimat nicht durch Sorgen verderben zu lassen. Doch so ganz gelingen wollte es ihm nicht. Die Angst vor dem Alter, mehr noch – die Angst vor dem Tod – verfolgte ihn, seit er zum ersten Mal das Stechen in der Brust gespürt hatte.
Ich sollte das Leben künftig mehr genießen, dachte er. Gleichzeitig wusste er, dass er sich einer Illusion hingab. Es gab so viel zu tun, in allen Teilen der Welt. Er und die Seinen durften sich keine Ruhe gönnen.
Wieder schweiften seine Gedanken zu der hinter ihm liegenden Mission. Von Livingstone aus war er über Johannesburg nach London Heathrow geflogen. Dort hatte er sich von einer Maschine der British Airways nach Glasgow, Schottland, bringen lassen. Der Koffer mit seiner Ausrüstung und dem zerlegbaren Scharfschützengewehr war problemlos durch sämtliche Kontrollschleusen gekommen.
Jetzt saß Emmet Walsh hinter dem Steuer seiner glänzenden Limousine, eines Jaguar X-Type, und fuhr in gemächlichem Tempo auf der A 82 in Richtung Norden, zwischen den Hügeln der Grampian Mountains hindurch. Je weiter er sich von Glasgow entfernte, desto besser fühlte er sich.
Die Anzeige am Armaturenbrett gab eine Außentemperatur von lediglich 10 Grad an, doch der tiefblaue, fast wolkenlose Himmel war traumhaft. Nirgends war die Luft klarer als hier, nirgends roch sie frischer. Emmet Walsh liebte dieses Land.
Zwei Stunden, nachdem er Glasgow verlassen hatte, stieß er auf den Loch Linnhe. Er verringerte die Geschwindigkeit, um den Blick nach links zu genießen, hinaus aufs offene Meer. Im Gegenlicht der nachmittäglichen Septembersonne funkelte und schimmerte die Wasseroberfläche der Bucht, der Firth of Lorn, wie flüssiges Gold. Vom Auto aus konnte Emmet sogar die dem Festland vorgelagerte Insel Mull erkennen.
Emmet folgte der A 82 in entgegengesetzter Richtung. Nach einigen Kilometern überquerte er den kaledonischen Kanal und bog in eine kleine Zubringerstraße auf der anderen Uferseite ein. Das Hügelland zu seiner Linken gehörte jetzt nicht mehr zu den Grampian Mountains, sondern zu den North West Highlands.
Der Kanal mündete in den Loch Lochy. Emmet ließ ihn hinter sich und befuhr ein Sträßchen in nordwestlicher Richtung. Das Gefühl der Vorfreude übermannte ihn, als er nach wenigen Kilometern einen anderen See erreichte, den Loch Arkaig. Eingebettet in die karge Hügellandschaft glich er den unzähligen anderen Seen Nordschottlands. Doch für Emmet Walsh war er etwas ganz Besonderes.
Die Sonne stand so tief, dass der Schatten der Berge das Wasser beinahe schwarz färbte. Ein Steinadler zog am Himmel seine einsamen Kreise. In einiger Entfernung tauchte das
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