Der zweite Gral
hier aus hatte er einen ausgezeichneten Blick über den See bis hinüber zur Burg.
Eine dicke, in Wollpullover und Jeans gekleidete Gestalt trat aus dem Halbdunkel der Kneipe auf ihn zu. Der Barbesitzer, wie sich herausstellte, ein Kerl namens Scully.
»Hast dich wohl verfahren«, sagte er.
Tanaka nickte.
»Dacht ich’s mir. Hätt mich auch gewundert, wenn du tatsächlich zu uns gewollt hättest. Wärst der erste Tourist seit zehn Jahren, der absichtlich hierher kommt.«
Obwohl Scully aussah wie ein Bär, klang seine Stimme freundlich. Gleichwohl musste Tanaka sich konzentrieren. Er sprach zwar ziemlich gut Englisch, doch der gälische Einfluss auf den hiesigen Dialekt machte es schwer, Scully zu verstehen.
Tanaka breitete seine Karte auf dem Tisch aus. »Ich will nach Fort Augustus«, sagte er. Auf dem Weg von Inverness hierherwar er durch diesen Ort am südlichen Ende des Loch Ness gefahren.
»Fort Augustus? Da wollen viele hin, Nessie fotografieren. War ’n schönes Bild fürs Familienalbum, was?« Scully stieß Tanaka mit dem Ellenbogen an, lachte und erklärte ihm den Weg nach Fort Augustus. »Sind aber noch gut fünfzig Kilometer bis dahin«, sagte er.
»Dann werde ich hier einen Kaffee trinken, bevor ich wieder aufbreche.«
»Kaffee? Gern.«
Kurz daraufstand eine dampfende Tasse auf Tanakas Tisch.
»Wie sieht es mit der Burg dort drüben aus?«, fragte er beiläufig. »Lohnt sich eine Besichtigung? Ich meine, wo ich schon mal hier bin.«
»Leighly Castle? Kannste vergessen. Die Burg is’ nicht zu besichtigen.«
Tanaka beschloss, einen Vorstoß zu wagen. »Ich habe auf dem Weg hierher gesehen, wie jemand auf einem Boot übersetzte.«
»Boot? Ach so ... Das war kein Tourist. Ich sag doch, dass seit Ewigkeiten kein Tourist mehr hier war. Die Frau in dem Boot muss ’ne Angestellte von Layoq Enterprises sein.«
»Layoq Enterprises?«
»Gehört ’nem steinreichen Pinkel, genau wie die Burg. Geschäftsmann. Ich glaub, der macht in Öl oder so. Hat seinerzeit Leighley Castle gekauft, wahrscheinlich, weil er zu viel Kohle hat. Ein-, zweimal im Jahr trifft er sich hier mit seinen Oberfuzzis.«
Tanaka verstand den Ausdruck nicht und machte ein fragendes Gesicht.
»Führungskräfte«, erläuterte Scully. »Hier finden Geschäftsgespräche oder so was statt. Genau weiß das keiner von uns. Schließlich sind wir ja nicht eingeladen!« Wieder lachte er auf.
»Und die Angestellten lassen sich per Boot zur Burg bringen?«, fragte Tanaka, bemüht, nicht allzu interessiert zu wirken.
»Es gibt keinen anderen Weg«, sagte Scully. »Man könnte höchstens noch um den See wandern. Aber welcher feine Pinkel macht das heutzutage noch? Na ja, im Grunde stören die Leute uns nicht. Sie tauchen ab und zu hier auf, zahlen uns ein bisschen Geld dafür, dass sie ihre teuren Schlitten in unseren Garagen abstellen dürfen oder dass wir sie über den See schippern, und dann verschwinden sie wieder. So geht es seit Jahren.«
Tom Tanaka wusste genug. Um keinen Argwohn zu erwecken, unterhielt er sich noch eine Weile mit Scully, während er gemütlich seinen Kaffee trank. Dann verabschiedete er sich, nicht ohne noch einmal nach dem Weg nach Fort Augustus zu fragen. Als er wieder im Wagen saß, war er sicher, dass Scully ihm die Touristenrolle abgekauft hatte.
Noch einmal ließ er sich das Gespräch durch den Kopf gehen. Layoq Enterprises. Nie davon gehört, dachte er. Layoq war nach seinem Empfinden ein seltsamer Firmenname. Irgendwie unpassend. Andererseits schien ihm jedes zweite schottische Wort irgendwie unpassend. Murlaggan. Loch Arkaig. Leighley Castle. Layoq klang da fast schon wieder erfrischend einfach.
Eines jedoch machte ihn skeptisch. Lara Mosehni mochte alles Mögliche sein, aber eines ganz bestimmt nicht: leitende Angestellte von Layoq Enterprises. Das wusste er mit absoluter Sicherheit. Immerhin beschattete er sie seit Wochen. Und seit Monaten war er den Rosenschwert-Mitgliedern auf der Spur.
Er lenkte den Wagen auf die A 830, überquerte den Kanal und stieß auf die A 82. Dem Straßenschild nach Inverness und Loch Ness folgend bog er nach Nordosten ein, doch bereits nach wenigen Kilometern hielt er in Spean Bridge am Bahnhof, um ein Telefonat zu führen. Lange benötigte er dafür nicht. Er forderte lediglich Verstärkung an.
11.
E mmet Walsh stand auf dem Westturm von Leighley Castle und blickte gedankenverloren über den See. Auf seiner Stirn standen Sorgenfalten. Er hatte das Auto am
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