Der zweite Gral
1.
New York, Bronx
I n dem kleinen, schäbigen Einzimmerapartment staute sich die spätsommerliche Hitze. Aber es lag nicht an der Temperatur, dass Anthony Nangala schwitzte. Er war in Kamerun aufgewachsen, hatte dort die ersten zehn Jahre seines Lebens verbracht. Hitze machte ihm nichts aus, das lag ihm im Blut.
Er war auch nicht krank. Ganz im Gegenteil befand er sich in ausgesprochen guter körperlicher Verfassung. Nangala war ein Meter siebenundachtzig groß und wog 180 Pfund, ohne ein Gramm Fett zu viel. In seiner Jugend, kurz nachdem er von Afrika in die USA gekommen war, hatte er mit dem Boxsport angefangen und es immerhin zum regionalen Schwergewichtschampion gebracht. In den Zeitungen hatte man ihm damals den Beinamen »Der schwarze Tornado« verpasst. Das war zwanzig Jahre her, doch die athletische Figur war ihm geblieben, obwohl er schon seit einer halben Ewigkeit nicht mehr trainierte und in drei Wochen seinen vierzigsten Geburtstag feierte.
Vorausgesetzt, er lebte dann noch.
Anthony Nangala schwitzte aus Angst.
Er ging ins Bad, ließ sich Wasser übers Gesicht laufen und trocknete sich ab, während er überlegte, wie es nun weitergehen solle.
Vielleicht irre ich mich, sagte er sich. Vielleicht sind sie ja gar nicht hinter mir her.
Doch er konnte nicht recht daran glauben.
Nangala kehrte ins spärlich möblierte Wohnzimmer zurück, dessen Einrichtung aus einer ausziehbaren Couch, einem Tisch und einem Schrank bestand. Am gekippten Fenster blieb er stehen und schaute auf die Straße hinunter, vermutlich zum hundertsten Mal an diesem Vormittag. Vom dritten Stock aus hatte er gute Sicht.
Es war das übliche, beinahe klischeehafte Bild der Bronx. Heruntergekommene Hausfassaden, bröckelnder Putz, rostige Feuertreppen. Schäbige Lebensmittelläden und Pfandbüros an jeder Ecke. Autos mit eingeschlagenen Scheiben, zerbeulten Motorhauben und abmontierten Reifen. Und natürlich die vielen Cliquen jugendlicher Schwarzer, von denen viele aussahen, als würden sie mit Rauschgift dealen oder den nächsten Einbruch planen.
Dennoch erschienen diese Jungs Nangala geradezu harmlos. Kleine Fische im Haifischbecken. Die Kerle, die es auf ihn abgesehen hatten, waren keine halbstarken Straßengangster, sondern Profis. Dem Aussehen nach Araber. Mindestens drei oder vier Mann. Derzeit aber war keiner von ihnen auf der Straße zu sehen.
Anthony Nangala sah auf die Uhr. Kurz vor halb zwölf. Sein Blick wanderte weiter zur Couch, auf der das Couvert mit dem eilig geschriebenen Brief und dem Film lag. Ein 36-Foto-Farb-film von Kodak, noch nicht entwickelt. Normalerweise nutzte und schätzte Nangala die Möglichkeiten des digitalen Zeitalters, doch bei den Aufnahmen im Sudan war nichts anderes als eine antiquierte Spiegelreflexkamera zur Hand gewesen.
Besser als nichts, dachte der Schwarze. Hauptsache, ich habe die Beweisfotos.
Er musste den Film so schnell wie möglich verschicken. Wenn seine Verfolger die Bilder nicht bei ihm fanden, hatte er vielleicht eine Überlebenschance. Abgesehen davon ging es bei dieser Sache nicht nur um sein Leben, sondern um das Leben vieler Menschen.
Erneut blickte Anthony Nangala aus dem Fenster. Die Banalität des Straßenbildes war trügerisch. Die Verfolger lauerten irgendwo dort draußen. Dennoch fasste er den Entschluss, den Film zum nächsten Briefkasten zu bringen und ihn an Lara zu schicken. Lara würde wissen, was sie damit zu tun hatte – nur für den Fall, dass er den heutigen Tag nicht überlebte.
Er schlüpfte in seinen Jogginganzug und stülpte sich zur Tarnung die Kapuze über den Kopf. Er wollte aussehen wie ein gewöhnlicher Mann von der Straße. Ein Gangmitglied im lässigen Sportlook. Das Couvert steckte er sich in den Ausschnitt der Joggingjacke. Außerdem schob er sich einen Stift in die Tasche. Er hatte das Couvert absichtlich noch nicht beschriftet. Laras Adresse durfte unter keinen Umständen in die falschen Hände fallen, sonst geriet sie ebenfalls in Gefahr.
Er verließ sein kleines, stickiges Apartment durchs Treppenhaus und wählte den Hinterausgang. Mehrere schwarzhäutige Kinder spielten im Hof Basketball. Im Schatten an der Hauswand schlief ein Betrunkener seinen Rausch aus. Ein Bild der Trostlosigkeit.
Anthony Nangala trat durch eine mit Graffiti verschandelte Tür auf die Straße, zog seine Kapuze ein wenig tiefer in die Stirn und schlenderte scheinbar unbekümmert los. Bei jedem Schritt spürte er das Couvert an seinem Bauch. Der nächste
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