Der zweite Mord
Licht ausmachen wollte, fiel der Strom aus. Mein erster Gedanke war natürlich das Beatmungsgerät. Auch wenn ich mir keine allzu großen Sorgen gemacht habe. Schwester Marianne ist … war eine sehr tüchtige Intensivschwester.«
Er unterbrach sich und seufzte laut. Der Kommissar schob eine Frage ein:
»Haben Sie in Kleidern auf dem Bett gelegen?«
»Nein. Ich hatte tatsächlich die Absicht zu schlafen. Peterzéns Zustand war stabil. Wo war ich? Ach so. Der Strom fiel aus. Ich lag da und wartete darauf, dass das Notstromaggregat anspringen würde. Aber das tat es nicht. Und als ich hörte, dass der Alarm des Beatmungsgeräts losschrillte, sprang ich aus dem Bett. In aller Eile zog ich Hosen und Kittel an. Seitdem habe ich keine ruhige Minute mehr gehabt. Ich hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, wie ich aussehe.«
Löwander stand auf und kniete sich gleich wieder hin. Er spähte unter das Sitzmöbel und unter das Bett und entdeckte, was er suchte. Das T-Shirt war unter das Bett geraten.
»Entschuldigen Sie. Ich muss mich beeilen. Um halb fünf können wir uns weiterunterhalten.«
Der Arzt hielt den Polizisten die Tür auf.
Irene setzte sich auf einen Holzstuhl neben der Tür, um bei der ersten Vernehmung der Nachtschwester Siv Persson dabei zu sein.
»Schwester Siv, Sie verstehen vermutlich, wie schwer es uns fällt, an ein Gespenst als Mörder zu glauben«, begann Andersson vorsichtig.
Siv Persson presste die Lippen zusammen, ohne zu antworten. Der Kommissar sah nachdenklich auf die Fotografie, die er immer noch in der Hand hielt.
»Wie würden Sie sie beschreiben, Schwester Siv?«, fuhr der Kommissar fort.
»Sie brauchen mich nicht mit Schwester anzureden, Herr Kommissar. Sie können auch Frau Persson sagen.«
»Gut.«
Er sah wieder auf das alte Foto.
»Sah sie so aus wie auf diesem Bild?«
»Ja, genauso.«
Das Bild war von oben und aus großer Entfernung aufgenommen. Der Kommissar wusste sogar, von welchem Fenster des Korridors aus es gemacht worden war. Das hatte er gerade erst überprüft. Ganz rechts war ein großer schwarzer Wagen zu sehen. Ein kräftiger Mann hielt einer bedeutend kleineren Frau die Beifahrertür auf. Ihr Gesicht war nicht zu sehen, da sie ihren Hut fest hielt. Offensichtlich ging ein starker Wind. Die Hand und der Mantelärmel verdeckten ihr Gesicht. Dass es sehr stark windete, war auch daran zu erkennen, dass der helle Mantel des Mannes flatterte und die Äste der kleinen Birke ganz links im Bild zur Seite gedrückt wurden. Zwischen dem Baum und den beiden am Auto stand die Krankenschwester.
Sie wendete dem Betrachter das Profil zu. Obwohl das Bild von oben aufgenommen worden war, konnte man sehen, dass sie eine große Frau war. Sie trug eine Schwesterntracht: weiße Haube mit gekräuselter Borte und einem schwarzen Band, weißer Kragen, weiße Manschetten, wadenlanges schwarzes Kleid und schwarze Schuhe mit kräftigem Absatz. Es war zu erkennen, dass das hoch gesteckte Haar unter der Haube blond war. In beiden Händen trug sie eine Reisetasche.
Langsam drehte der Kommissar die Karte um und las das Datum in schwarzer Tinte und zierlicher Handschrift. »2. Mai 1946.« Das war alles.
»Wo haben Sie dieses Bild her?«, fragte Andersson.
»Das existiert, seit ich hier auf der Station arbeite. Schwester Gertrud hat es mir gezeigt.«
»Arbeitet sie immer noch hier auf der Station?«
»Nein, sie ist letztes Jahr gestorben. Sie wurde exakt neunzig.«
Schwester Siv sah dem Kommissar direkt in die Augen, die von den dicken Gläsern eines unmodernen Brillengestells unnatürlich vergrößert wurden. Zögernd fuhr sie fort:
»Schwester Gertrud fing im Herbst ’46 in der Löwander-Klinik an. Sie übernahm den Dienst der Stations- und Oberschwester von Schwester Tekla. Gertrud ist Schwester Tekla nie im Leben begegnet. Nur als Toter.«
Siv Persson machte eine Pause und streckte die Hand nach dem Foto aus. Der Kommissar reichte es ihr. Nachdenklich betrachtete sie es.
»Gertrud fing natürlich den Klatsch auf und erzählte ihn mir weiter. Schwester Tekla war eine elegante Frau.«
Schwester Siv verstummte. Als sie fortfuhr, klang ihre Stimme eindeutig verlegen.
»Das hier habe ich nur aus zweiter Hand … aber Dr. Löwander und Schwester Tekla sollen eine Affäre gehabt haben.«
Kommissar Andersson zuckte zusammen.
»Augenblick! Mit Dr. Löwander habe ich doch eben erst geredet. Er kann noch kaum auf der Welt gewesen sein, als Schwester Tekla hier gearbeitet
Weitere Kostenlose Bücher