Der zweite Mord
ein winziger Tisch. In einem der Betten lag die Leiche von Herrn Peterzén. Auf seinem Nachttisch brannte eine Kerze, deren stille Flamme ein mildes Licht auf sein friedliches Gesicht warf. Er hatte die Hände auf der Brust gefaltet, und das Kinn war mit einer elastischen Binde hoch gebunden. Neben dem Bett stand eine Frau mittleren Alters und betrachtete den Toten. Als Irene und Schwester Ellen eintraten, zuckte sie zusammen.
»Entschuldigung … wir wussten nicht … wir suchen Schwester Anna-Karin«, stotterte Schwester Ellen verwirrt.
»Sie kommt gleich. Sie musste irgendwelche Papiere ausfüllen.«
Die Frau am Bett kam auf sie zu. Sie hatte offenbar geweint, wirkte aber gesammelt.
»Mein Beileid. Ich bin Kriminalinspektorin Irene Huss.«
Die Frau zuckte erneut zusammen.
»Kriminalinspektorin? Was machen Sie hier?«
»Haben Sie nicht gehört, dass … hier in der Klinik heute Nacht einige Dinge vorgefallen sind?«
Verwundert zog die Frau die Brauen hoch. Sie sah wirklich sehr überrascht aus.
»Einige Dinge? Dass Nils gestorben ist?«, fragte sie.
Sie war offenbar weder vom Stromausfall noch vom Mord an der Krankenschwester informiert worden. Da davon bald eh in den Abendzeitungen zu lesen sein würde, beschloss Irene, fortzufahren.
»Dass Nils Peterzén starb, war leider eine direkte Folge dieser Ereignisse. Darf ich nach ihrem Namen fragen?«
»Doris Peterzén. Nils ist mein Mann.«
Nur ein leichtes Beben der Stimme verriet ihre Gefühle.
Irene schaute die beherrschte Frau an. Sie waren fast gleich groß. Das bedeutete, dass die Frau vor ihr fast ein Meter achtzig war. Für ihr Alter war sie ungewöhnlich groß und ungewöhnlich elegant. Obwohl sie ungeschminkt war und geweint hatte, war sie zweifellos eine schöne Frau. Das Haar war in einem ausgesuchten Platinblond ergraut, wahrscheinlich mit diskreter Hilfe eines geschickten Friseurs. Die Haut war glatt und makellos. Die großen grau-blauen Augen wurden von langen Wimpern umrahmt, und die Gesichtszüge waren perfekt. Irene kannte sie, wusste aber nicht, woher. Aus der Nähe sah sie, dass die Frau um die fünfzig war, aus der Entfernung hätte sie sie für bedeutend jünger gehalten. Sie trug einen dunkelblauen Wollmantel mit schwarzem Pelzkragen und einen passenden Hut.
»Ihr Mann musste gestern nach der Operation beatmet werden«, fing Irene an.
»Das weiß ich. Dr. Löwander hat mich gestern persönlich angerufen, um es mir zu erzählen. Aber Nils wusste selbst, dass er schlechte Lungen hat. Er hat über fünfzig Jahre lang geraucht, aber vor zehn Jahren aufgehört. Wir … Dr. Löwander glaubte, dass die Operation gut gehen würde. Sie war nötig. Der Bruch war sehr groß.«
»Wie alt war Ihr Mann?«
»Er ist dreiundachtzig.«
Sie drehte sich langsam um und ging wieder zum Bett. Mit gesenktem Kopf stand sie am Fußende und schniefte.
Die Tür zur Treppe und zum Bettenaufzug wurde aufgerissen. Eine junge Schwester mit blondem, ultrakurzem Haar platzte herein. Auf den Wangen hatte sie hektische rote Flecken.
»Sind sie schon da?«, sagte sie gehetzt zu Schwester Ellen.
Die ältere Schwester runzelte die Stirn und antwortete schroff:
»Nein.«
Irene fragte sich verwirrt, wer da wohl erwartet wurde, und erhielt schon im nächsten Moment die Antwort. In der Türöffnung hinter der blonden Schwester tauchten zwei Männer in diskreten dunklen Anzügen auf. Zwischen sich hatten sie eine Liege auf Rollen, auf der ein dunkelgrauer Sack mit einem Reißverschluss lag.
Schwester Ellen trat an Doris Peterzén heran und sagte leise:
»Das sind die Herren vom Bestattungsdienst.«
Doris Peterzén zuckte zusammen. Als sie die Männer mit der Bahre sah, wurde ihr Schluchzen lauter. Schwester Ellen legte ihr einen Arm um die Schultern und führte sie durch die Flügeltür nach draußen. Wahrscheinlich nimmt sie die junge Witwe ins Schwesternzimmer mit, dachte Irene. Sie selbst wollte noch etwas bleiben und mit der jungen Intensivschwester sprechen.
Die Leiche von Nils Peterzén wurde auf die Bahre gehoben und in den Sack gelegt. Der Reißverschluss wurde geschlossen, und die Männer verschwanden, wie sie gekommen waren. Irene ging zu einem der beiden Fenster. Sie führten beide auf den großen Park an der Rückseite der Klinik hinaus. Irene lehnte die Stirn gegen die kalte Scheibe. Sie sah, wie die Trage durch die Hintertür gerollt wurde und im dunkelgrauen Kombi des Bestattungsdienstes verschwand. Er hatte ein erhöhtes Dach und getönte
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