Der Zwergenkrieg
sie. »Falls doch noch jemand da ist, muss er nicht wissen, dass wir in seiner Nähe sind.«
»Nordlinge?«, fragte Bollis, der zu ihrer Linken lag.
»Wer weiß?« Sie gab den anderen ein Zeichen, sich auf dem Bauch ein Stück zurückzuziehen, fort von der offenen Mauerkante. »Wir sind während der fünf Monde im Tunnel nicht einem einzigen Nordling begegnet. Sie müssen von hier gekommen sein.«
»Aber das hier ist Zwergenland!«, entfuhr es Bollis erzürnt.
»
War
Zwergenland, du Dummkopf!«, verbesserte ihn Gellir. Die grellweiße Sonne des Nordlandes spiegelte sich auf seiner eisernen Augenklappe, ließ sie leuchten wie ein Zyklopenauge.
Bis zum Einfall der Berserker im Hohlen Berg waren die Nordlinge für die Zwerge nicht mehr als eine Legende gewesen, ein sagenumwobenes Kriegervolk, das durch die Erzählungen der Alten geisterte. Nichts war über sie bekannt, nicht ihre genaue Herkunft, nicht ihre Lebensweise. Allein ihre Kampfkraft war überliefert, und mit ihr die Berichte von Mord und Zerstörung.
Styrmir wandte sich im Liegen abermals an Grimma. »Du glaubst also, dort unten in den Ruinen leben Nordlinge?«
»Vielleicht«, sagte sie finster. »Oder Schlimmeres.«
»Was ist schlimmer als Nordlinge?«, fragte ein junger Schreiber. Der zweite war vor drei Monden in einem unterirdischen Flusslauf ertrunken.
»Wir werden einen Erkundungstrupp bilden«, sagte Grimma. »Acht Mann gehen hinunter und schauen sich um, der Rest bleibt hier und wartet.«
»Ich gehe!«, verkündete Gellir Rotbart entschlossen. »Ich werde nicht hier oben auf dieser Mauer herumliegen und warten, bis meine Axt eingeschneit ist.«
Andere pflichteten ihm bei, nur der Schreiber fragte ein zweites Mal: »Was ist schlimmer als Nordlinge?« Auch diesmal erhielt er keine Antwort.
Grimma erklärte, dass sie selbst den Spähtrupp anführen würde. Gellir, Bollis und Egil sollten gleichfalls mitgehen, dazu vier der anderen Krieger, nicht die besten, damit auch die Zurückbleibenden im Falle eines Angriffs über ausreichende Kampfkraft verfügten.
Nachdem Grimma die letzten Anweisungen gegeben hatte, wollten sie und die anderen aufbrechen. Doch Styrmir hielt sie zurück. »Ich will auch mitgehen«, sagte er.
»Nein«, widersprach sie, »du bleibst hier.«
»Jemand wird dem König über die Lage dort unten Bericht erstatten müssen.«
Grimma lächelte; sie wusste, dass das nur ein Vorwand war. Styrmir ging es nicht um den König, erst recht nicht um seine Pflichten als Berater. Er wollte dabei sein, wenn sie etwas fanden, das war alles. Ihn reizte das Wagnis, der Lockruf des Unbekannten. Während der vergangenen Monde hatte er sich mehr als einmal freiwillig gemeldet, wenn es galt, dunkle Felsspalten zu erkunden und stille, schwarze Seen zu durchschwimmen. Grimma hatte jedes Mal abgelehnt und den übrigen Zwergen den Vorzug gegeben. Nicht, weil sie Styrmirs Drängen nicht zu schätzen wusste. Aber die anderen waren Krieger, und sie waren sich der Tatsache bewusst, dass einige von ihnen diese Reise nicht überleben würden. Der Gedanke an den Tod war ihnen vertraut, sie hatten sich längst damit abgefunden. Styrmir aber war neugierig, wißbegierig, und Grimma fand nicht, dass es sich dafür zu sterben lohnte.
Sie wollte sich abwenden und mit den anderen davonkriechen, doch Styrmir packte sie am Arm. »Lass mich mitgehen«, bat er noch einmal. »Sollte es mein Tod sein, dann habe ich selbst es so gewollt.«
»Es wäre ein unnützer Tod.« Ungeduldig schüttelte Grimma seine Hand ab. »Es mag sich lohnen, im Kampf zu sterben, für das Leben anderer oder eine gerechte Sache. Aber dein Tod wäre niemandem zum Vorteil, nicht einem von uns und nicht unserem Ziel.«
Ein Lächeln huschte über Styrmirs tätowiertes Gesicht. »Du willst nicht, dass ich sterbe?«
»Natürlich nicht.« Sie hatte die Worte kaum ausgesprochen, als ihr die Frage durch den Kopf schoss, ob er damit irgendetwas andeuten wollte. Zu ihrem Erstaunen zog Styrmir sich zurück, doch das vage Lächeln blieb.
»Was ist so lustig?«, zischte sie, zum ersten Mal verunsichert.
»Nichts«, gab er leise zurück. »Ich wünsche dir viel Glück, Grimma.«
Sie musste an sich halten, um nicht nach ihm zu greifen und den Grund dieses dreisten Lächelns aus ihm herauszuprügeln. Aber alle anderen beobachteten sie, und sie durfte sich nicht die Blöße geben, sich derart von Styrmir aus der Fassung bringen zu lassen. Jemand hüstelte betont, zwei andere flüsterten grinsend
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