Schattenmelodie
Prolog
Ich stehe auf dem schmalen und vertrauten Felsvorsprung. Über mir spannt sich dunkelviolett das Universum mit seinen unzähligen Sternen. Vor mir in der Tiefe liegt der Himmel von Berlin. Eine einzelne weiße Blüte schwebt herab. Sie leuchtet in der Dunkelheit. Ihr zartes Klingen wird leiser und leiser, je weiter sie sich nach unten entfernt. Sie verliert sich zwischen den Engeln, die sich wie Nebelschwaden über dem azurblauen Himmel der Stadt bewegen. Doch auf einmal scheint das Klingen der Blüte wieder anzuschwellen.
Nein, es ist nicht die Blüte, es ist eine Melodie, die von unten heraufsteigt. Ich lausche. Sie klingt wunderschön. Ich breite meine Arme aus und lasse mich in die Himmelstiefe fallen, so wie ich es schon viele Male getan habe. Es ist kein atemberaubendes Abstürzen im freien Fall. Es ist, als würde ich mich auf einen fliegenden Teppich legen und wie ein Vogel mit weit gespannten Flügen hinabgleiten.
Über mir entfernt sich der Abend der magischen Welt. Vor mir tut sich ein klarer Morgen in der Realwelt auf. Ein eisigblauer, aber freundlicher Dezemberhimmel. Ich fliege über die Dächer der Stadt und folge der Melodie. Sie zieht mich mit sich. Sie klingt so traumhaft schön. Am Horizont ein rosa Streifen, aus dem die Sonne hervorbricht wie ein goldener Glutball. Heiß und doch sehr kalt um diese Jahreszeit. Bitterkalt. So kalt, dass ich auf einmal friere. Das kann nicht sein. Etwas stimmt nicht. Ich bin ein Engel, und Engel frieren nie.
Plötzlich taumele ich auf einen engen Hinterhof zu, wie auf einen dunklen Schlund. Wo ist die Musik? Sie ist noch da. Das beruhigt mich. Aber gleichzeitig beunruhigt mich, dass sie von so einem finsteren Ort heraufsteigt. Erschrocken schlinge ich die Arme um meinen Körper. Und als wären sie die ganze Zeit meine Flügel gewesen, stürze ich in die Tiefe. Ich kann auf einmal nicht mehr fliegen und falle, falle in den dunklen Schlund.
Das Bröckeln alter Ziegel und das Klirren von Fensterglas zerstören die Melodie. Die harmonischen Töne werden schrill, ihre Dissonanz sticht mir ins Herz wie ein Dolch, dann entfernen sie sich. Ich glaube zu schreien. Panisch erwarte ich den Aufprall auf Beton. Aber nichts dergleichen geschieht.
Stattdessen ist es auf einmal beängstigend still. Für einen letzten Moment sehe ich, umgeben von schwarzen Wänden, ein Viereck blauen Morgenhimmels, über den weiße Wolkenfetzen rasen. Dann tauche ich ein in vollkommene Schwärze.
Die Schwärze – sie ist NASS! Ein schwarzes Meer, in dem ich ertrinke! Ich kann nichts mehr hören, nichts mehr sehen, spüre nur wilde Panik – Wo bin ich? Was geschieht mit mir?
Teil I
Kapitel 1
Ich stand am Fenster meines Turmhauses und sah hinaus.
„Gute Nacht Neve“, rief eine Studentin leise hinauf, die gerade aus dem Wald kam und dem Weg Richtung Akademie folgte. Ich grüßte zurück.
Laue Abendluft wehte herein. Friedlich lag das Tal mit seinen kleinen Häuschen vor mir. Niemand von den Studenten haderte mit seinem Element und sorgte für Unruhe in der Atmosphäre. Selbst Kira schlummerte in ihrem Zimmer unter mir tief und fest. Wenn ich mich genau konzentrierte, konnte ich ihren gleichmäßigen Atem hören. Sie war seit einigen Wochen hier und tat sich besonders schwer damit, in der magischen Welt klarzukommen. Kurz vor ihrer Ankunft hat sie sich in Tim verliebt, einen Jungen aus ihrer Klasse. Das machte sie zusätzlich zu all den geistigen und körperlichen Veränderungen, die mit ihr vorgingen, zu einem Nervenbündel.
Eigentlich wollte ich an der Übersicht zu den magischen Blasen auf der ganzen Welt arbeiten. Sulannia, die im Rat das Element Wasser vertrat, hatte mich damit beauftragt. Aber ich stand immer wieder von meinem Schreibtisch auf und fand keine Ruhe. Ich hatte Kira versprochen, Tim in der Realwelt zu besuchen und nachzuschauen, wie es ihm ging, weil Kiras Herzschmerz kaum auszuhalten war.
Nachdem ich Kira am magischen See gefunden hatte, war ich vom magischen Rat beauftragt worden, mich um sie zu kümmern. Ich seufzte unwillkürlich. Liebesangelegenheiten verkomplizierten alles. Ich bereute mein Versprechen, Tim aufzusuchen. Kira sollte ihn erst einmal vergessen. Doch wie konnte ich sie dazu bringen?
Die roten Lampionblumen auf den Fensterbrettern von Leos Haus blinkten zu mir herüber. Leo, Element Feuer, war der Obermacho der Akademie. Und er schien Kira zu verwirren. Nicht, dass er als der große Tröster auftreten und Kira auch noch den
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