Der Zypressengarten
wichtigen Dinge waren die ganze Zeit in mir.
»Ich nehme an, Grey weiß nicht, dass du fließend Italienisch sprichst.«
»Nein, weiß er nicht. Ich habe eine Menge zu erklären.«
»Wäre es vermessen, dich zu bitten, es mir zu erklären?«
»Wäre es, Rafa.« Sie sah auf ihren Ring. »Es ist fairer, dass mein Mann es zuerst erfährt. Danach erkläre ich es euch anderen. Ich will nicht mehr verbergen, wer ich bin.«
Er guckte sie stirnrunzelnd an, auch wenn es idiotisch war, dass er sich zurückgewiesen fühlte. Keiner von ihnen sagte ein weiteres Wort. Sie schauten aus dem Fenster und hingen jeder ihren Gedanken nach.
* * *
Am Abend trafen sie im Polzanze ein. Grey, Clementine, Jake, Harvey und Mr Potter erwarteten sie im Wintergarten. Sie alle wollten hören, ob Marina das Hotel gerettet hatte. Schlagartig fühlte Marina die Last der Verantwortung, als hätte sie sich einen bleiernen Umhang umgelegt. So viele Menschen waren von ihr und dem Polzanze abhängig, und sie enttäuschte sie. Der Anblick ihrer erwartungsvollen Gesichter war niederschmetternd.
»Ich muss mit Grey sprechen«, sagte sie.
»Hast du es gekriegt?«, fragte Clementine, die ihre Ungeduld nicht bändigen konnte.
»Nein, habe ich nicht«, antwortete Marina.
Um sie sackte die Luft ein wie nasser Schnee. Marina wollte ihnen sagen, dass es nichts machte, aber das stimmte nicht. Für sie tat es das sehr wohl.
Clementine lächelte mitfühlend. »Wir schaffen das schon«, sagte sie, obwohl sie mit den Tränen kämpfte. Bis zu diesem Moment war ihr nicht bewusst gewesen, wie viel ihr das Polzanze bedeutete. Sie sah zu Rafa, der es jedoch vermied, sie anzugucken. Er wirkte sehr traurig und war in der einen Nacht in Italien um zehn Jahre gealtert. Sie wollte ihn schütteln. Kapierte er denn nicht langsam mal, dass sie ihn liebte?
Marina wandte sich zu ihrem Mann. »Grey, gehst du mit mir spazieren? Ich muss dir etwas erzählen.«
Grey war von Anfang an bewusst gewesen, dass sie Geheimnisse vor ihm hatte. Die wiederkehrenden Albträume, bei denen sie im Schlaf schrie und hinterher in seinen Armen schluchzte, deuteten auf dunkle, schreckliche Ereignisse in ihrer Vergangenheit hin, über die sie nicht reden konnte. Er hatte sie nie gefragt, was es war, weil er darauf vertraute, dass sie es ihm erzählen würde, wenn sie so weit war. Allerdings hatte er nicht erwartet, dass es viele Jahre dauern würde. Nun gingen sie Hand in Hand hinunter zum Strand, wo sie unzählige Stunden gestanden, aufs Meer geblickt und ihre Kinderlosigkeit betrauert hatte. Sie stapften durch den Sand, und Marina ließ sich Zeit.
»Kannst du mir eines versprechen, Grey?«
»Natürlich.«
»Versuchst du bitte, mich nicht zu verurteilen?«
»Das werde ich nicht, mein Schatz.«
»Doch, wirst du. Und es ist vollkommen verständlich. Aber bitte, denk nicht schlecht von mir, weil ich dir nichts erzählt habe. Ich konnte es nur so verkraften.«
»Gut.«
»Und du musst wissen, dass ich dich liebe.« Sie blieb stehen und ergriff seine Hände. »Ich liebe dich dafür, dass du so geduldig und mitfühlend bist und dass du mich immer geliebt hast, obwohl du wusstest, dass ich dir einen Teil von mir vorenthalten habe.«
»Marina, Schatz, was es auch ist, ich liebe dich immer noch.«
Sie atmete tief ein und umklammerte seine Hände unbewusst fester.
»Mein Name ist Floriana Farussi. Ich bin Italienerin, aus einem kleinen Küstenstädtchen in der Toskana, Herba. Meine Mutter lief mit einem Tomatenverkäufer vom Markt weg, nahm meinen kleinen Bruder mit und ließ mich bei meinem versoffenen Vater Elio. Ich wuchs praktisch als Waise auf, aber ich träumte stets von einem besseren Leben.«
Sie war so mit ihrer Geschichte befasst, dass sie nicht bemerkte, wie aschfahl Grey wurde.
Lange Zeit erzählte sie, sagte ihm alles. Sie saßen im Sand, und sie beschrieb den Sommer, in dem sie sich in Dante verliebte, wie sie sich beinahe umbrachte, als sie von der hohen Klippe ins Meer sprang, und von ihrem ersten und einzigen Liebesakt mit ihm. Sie erzählte von Gute-Nacht, von Costanza und von deren boshafter Mutter, der Contessa.
Als sie ihm von der Schwangerschaft berichtete, von ihren Hoffnungen auf eine Zukunft mit Dante und dem Verlust ihres Kindes im Kloster, begann Grey, sie besser zu verstehen. Nun begriff er, warum es sie fast zerstörte, dass sie später keine Kinder mehr bekam. Er verstand, woher ihre furchtbaren Träume kamen und warum sie zeitweise unter dem Verlust
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