Der Zypressengarten
Lachen um Jahre jünger zu werden.
Unterdes wurde Rafa immer bedrückter, zog sich in den Hintergrund zurück, während sich die beiden in ihrem eigenen Zauber sonnten. Wie merkwürdig, dachte er, dass manchmal, wenn eine Frage beantwortet ist, eine andere aufleuchtet; und die Antwort auf jene fürchtete er am allermeisten.
35
Clementine ging nicht zur Arbeit. Sie rief Sylvia an und erklärte ihr in ihrer krächzigsten Stimme, dass sie sich einen fiesen Virus eingefangen haben musste, sich elend fühlte und lieber keinen im Büro anstecken wollte. »Ich schätze, Mr Atwood hat zu Hause schon genug Probleme.«
Sylvia wusste, dass sie nur spielte, aber das störte sie nicht. Wahrscheinlich wollte Clementine den Tag mit Rafa verbringen, was sie ihr nicht verdenken konnte. Sie schaltete ihren Computer an und überlegte, ob es da draußen auch einen Rafa für sie gab.
Aber Rafa war an diesem Morgen nach Italien abgereist, und sein Fehlen hallte förmlich durchs Hotel. Clementine wanderte wie ein verirrter Hund durch die Räume, einsam und voller Sehnsucht.
Sie machte einen langen Spaziergang mit Biscuit an den Klippen entlang und guckte immer wieder auf ihr Handy. Es war keine Nachricht von Rafa gekommen. Sie wollte ihn anrufen und sich entschuldigen, dass sie weggelaufen war, ohne sich seine Erklärung anzuhören, gab jedoch jedes Mal wieder auf, kaum dass sie die ersten Zahlen eingetippt hatte. Sie hatte Angst vor dem, was er ihr erzählen würde.
Nach dem Spaziergang fand sie ihren Vater in der Bibliothek, wo er Bücher einsortierte, die der Brigadier zurückgebracht hatte.
»Seit er Jane Meister gebeten hat, seine Frau zu werden, liest er weniger«, sagte Grey, stieg auf die Leiter und stellte Andrew Roberts’ Masters and Commanders zurück in das Fach für Militärliteratur. »Er ist ein glücklicher Mann.«
»Schön für ihn.«
Grey sah zu seiner Tochter hinunter. »Wieso bist du so mürrisch?«
Sie verschränkte die Arme und blickte durchs Fenster hinaus auf das Wasser. Es war ein wunderschöner Tag, der Himmel blau und die See glatt wie ein Spiegel. »Dad, hast du Lust, mit mir mit dem Boot rauszufahren?«
Grey unterbrach seine Arbeit und kam die Leiter herunter. »Sehr gerne.«
Seine Tochter lächelte unsicher. »Ich möchte nur ein bisschen Zeit mit dir verbringen.«
Sanft tätschelte er ihre Schulter, und bei dieser kleinen Geste überkam Clementine ein solch unerwartetes Anlehnungsbedürfnis, dass sie sich in seine Arme warf. Zunächst erstarrte Grey vor Schreck und wusste nicht recht, wie er reagieren sollte. Seit Jahren hatte er Clementine nicht mehr umarmt und ganz vergessen, wie es sich anfühlte. Er fragte sie nicht, was los war, denn sobald sie draußen auf dem Wasser waren, würde sie es ihm von sich aus erzählen.
Am nächsten Morgen erwachte Marina inmitten einer italienischen Geräuschkulisse. Vögel zwitscherten hoch oben in den Pinien, und die Düfte des Gartens wehten mit der warmen Meeresbrise ins Zimmer. Marina roch Kiefernharz und Erde, Rosmarin und gemähtes Gras, und die Geräusche der Gärtner, die draußen die Beete wässerten, waren eindeutig fremd. Sie öffnete die Augen und blickte sich um. Das Gästezimmer mit der hohen, stuckverzierten Decke war mit eleganten Antiquitäten möbliert, die sehr gut zu den taubenblauen Seidenvorhängen passten.
Früher hatte sie geglaubt, sie würde eines Tages mit Dante hier leben und viele hellhaarige Kinder bekommen, die sie lieben durfte, aber das war lange her – in einem anderen Leben. Nun lag sie in dem großen, luxuriösen Bett mit Blick auf jene Gärten, die für sie einst das Paradies gewesen waren, und anstelle von Sehnsucht oder Verlust empfand sie eine neue Zufriedenheit. Es war, als könnte sie die Vergangenheit endlich hinter sich lassen, weil sie zurückgekommen war und feststellte, dass sie ihr nicht mehr wehtun konnte.
Marina stand auf und zog die Vorhänge zurück. Der Wind streichelte ihre Haut, als sie hinaus in den Sonnenschein sah. Mit einer neuen Distanziertheit betrachtete sie die Gärten und begriff, wie sehr sie sich verändert hatte. Sie war nicht mehr Floriana. Sie war Marina, hatte einen englischen Ehemann und ein englisches Leben. Hatte es gestern Abend noch einen Moment gegeben, in dem ihr Marina wie eine Maske vorkam, wurde ihr nun klar, dass sie echt war, Floriana hingegen nichts als eine Erinnerung, die sie in ihren Gedanken mit Leben füllte. Die Vergangenheit war fort, und sie würde sie niemals
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