Der Zypressengarten
zurückbekommen.
Was sie auch gar nicht wollte. Sie atmete tief ein und schloss die Augen. Nein, die Vergangenheit wollte sie nicht zurück, nur den Sohn, den sie dort gelassen hatte. Nach ihm sehnte sie sich mit ganzem Herzen. Die ersten Tage ihres Exils, als ihr der graue englische Himmel und der kalte, durchdringende Regen schreckliches Heimweh bescherten, waren längst vorbei – ebenso wie die Stunden, die sie am Strand auf und ab lief, während sie auf Nachricht über ihren Sohn von Pater Ascanio wartete. Inzwischen war der alte Priester tot.
Das Trauma eines Neuanfangs in einem fremden Land, das Lernen der neuen Sprache und die Isolation, weil ihr Herz zu gebrochen war, als dass sie neue Freunde suchen konnte, waren überstanden. Wie ein Baum im Winter war sie eingefroren gewesen, bis mit dem Frühling kleine grüne Knospen und schließlich Blüten kamen und sie stärker wurde. Sie wusste jetzt, dass sie alles überleben könnte, sogar den Verlust ihres geliebten Polzanze, denn sie hatte ihren Sohn verloren und war trotzdem fähig, das Leben und die Liebe zu genießen.
Sie schaute hinauf zum azurblauen Himmel, wo ein Raubvogel auf dem Wind segelte, und spürte, wie sich ihr Brustkorb weitete und sie etwas Größeres als sich spürte, Gott zu fühlen glaubte. Wieder schloss sie ihre Augen, die warme Präsenz auf ihrem Gesicht spürend, und ließ Ihn wieder in ihr Herz. Dann schickte sie ein Gebet gen Himmel. Sie betete um das Einzige, was wirklich wichtig war: ihr Kind.
Als sie hinaus auf die Terrasse kam, saßen Dante und Rafa bereits bei einem herzhaften Frühstück. Sie unterhielten sich wie alte Freunde. Rafa fiel die Veränderung an Marina sofort auf. Sie strahlte eine neue Leichtigkeit aus, die sie jünger wirken ließ, beinahe mädchenhaft.
Nach dem Frühstück gingen sie hinaus zu ihrem Wagen. Der Butler hatte ihr Gepäck schon eingeladen und hielt die Beifahrertür auf. Dante schlug vor, dass sie nach Herba fuhren, doch das lehnte Marina ab. Sie hatte genug gesehen.
Sie nahm Dantes Hand und sagte so leise, dass Rafa es nicht hörte: »Jenes Mädchen bin ich nicht mehr.«
Seine Augen begannen zu glänzen, und er drückte ihre Hand. »Aber ich bin noch derselbe Junge, der dich liebt.«
Rafa beobachtete, wie die beiden sich umarmten. Sie klammerten sich eine längere Zeit aneinander, und Rafa wandte sich diskret ab. Er blickte zu einer kleinen Piniengruppe, wo sich ein paar Eichhörnchen gegenseitig die kahlen Stämme hinaufjagten, ehe sie oben im dichten Grün verschwanden. Ein Anflug von Eifersucht regte sich in ihm, und trotzig schob er die Hände in die Taschen.
Dante wollte sie nicht gehen lassen. Sie sah immer noch so aus wie früher, ungeachtet ihres hell gefärbten Haars. Als sie heute Morgen auf die Terrasse trat, hatte er den Atem angehalten und musste sich am Tisch abstützen, weil er plötzlich vierzig Jahre in die Vergangenheit katapultiert wurde. Er bereute, dass er damals nicht den Mut aufbrachte, mit ihr durchzubrennen, und dass er nicht hartnäckiger nach ihr gesucht hatte. Nun sah er zu, wie sie in den Wagen stieg, und winkte ihnen nach, als sie langsam die Einfahrt hinunterfuhren. Er konnte ihren Duft noch auf seiner Haut riechen, ihren weichen Körper in seinen Armen fühlen und staunte über sein Sehnen, das all die Jahre nicht dämpfen konnten. Schon einmal hatte das Schicksal interveniert und sie ihm weggenommen. Jetzt nahm es sie ihm erneut, aber diesmal war sie nicht verloren – und sie hatten einen Sohn. Er rieb sich das Kinn. Wie sehr hatte er sich einen Sohn gewünscht.
Mit festen Schritten stieg er die Stufen zum Haus hinauf. »Lavanti, ich muss zurück nach Mailand«, rief er seinem Butler zu, ehe er in seinem Arbeitszimmer verschwand.
Marina drehte sich ein letztes Mal um, als sie das Tor von La Magdalena passierten. Die hohen Eisengitter schlossen sich, versperrten die Vergangenheit und packten sie auf den Dachboden der Erinnerungen, wo sie zusammen mit dem Rest von Florianas Leben lagern sollten.
»Du scheinst heute glücklicher«, bemerkte Rafa ein wenig verbittert.
»Bin ich«, sagte sie seufzend. Rafa versuchte, den Grund zu erahnen. »Aber ich habe nicht bekommen, wofür ich herkam. Ich habe gar nicht danach gefragt.« Sie blickte aus dem Fenster zu einer Mutter mit zwei kleinen Kindern, die langsam die Straße hinunterging. »Wenn ich das Polzanze verliere, ist es eben so. Es ist nur ein Haus. Alle wichtigen Dinge kann ich mitnehmen.« Denn die wirklich
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