Die Reliquie von Buchhorn
I
Dietger lag reglos unter dem kleinen Fenster, und das Sonnenlicht malte fröhliche Flecken in das, was von seinem Gesicht übrig geblieben war. Die sorgfältig verschlossenen Krüge mit seinem Honig waren zerschlagen und von den Wandbrettern gerissen worden. Klebrige Fäden glitzerten im Sonnenlicht wie Bernstein und zogen sich bis zum Boden, wo sich der kostbare Stoff in dicken Pfützen sammelte. Dazwischen lagen Scherben und die Überreste der wenigen Hausgeräte, die in sinnloser Wut durch den Raum geschleudert worden waren.
Isentrud verkrallte die Finger im Halsausschnitt ihres Kleides, wo sich schwach eine Ausbuchtung abzeichnete. Ihre Hand bebte. Ihre Knie begannen zu zittern. Sie öffnete den Mund, aber es kam lediglich ein heiseres Keuchen heraus. Nur ein Gedanke war klar und greifbar: Sie musste Hilfe holen. Die Frau des Imkers drehte sich um und prallte gegen eine Gestalt, die unbemerkt hinter ihr aufgetaucht war. Sie taumelte einen Schritt zurück und stieß einen schrillen Schrei aus.
»Isentrud!«
Sie fühlte, wie sie an den Armen gepackt und kräftig geschüttelt wurde.
»Isentrud! Bei allen Teufeln, hör auf zu kreischen. Was hast du?«
Sie sah das rote Haar, die Zahnlücke, und endlich begriff sie, wer vor ihr stand. Ihr Schrei brach so abrupt ab, dass ihr die Stille in den Ohren gellte. »Wulfhard!«, flüsterte sie.
»Was …«, begann er.
Sie holte aus und ohrfeigte ihn mit voller Wucht. Sein Kopf flog nach hinten. Sie sah die Frage in seinen Augen und hätte am liebsten noch einmal zugeschlagen. Stattdessen wand sie sich aus seinem Griff und stieß ihn mit beiden Händen vor die Brust. »Geh!«, keuchte sie. »Du musst fort, auf der Stelle! Worauf wartest du noch! Geh! Niemand darf dich hier sehen!«
Wulfhard ließ die Hand sinken, mit der er seine Wange hielt. Er drängte die Frau beiseite und betrat die Hütte.
»Bei allen Heiligen«, entfuhr es ihm. Plötzlich schoss der rotbraune Streuner, der ihm auf Schritt und Tritt folgte, durch seine Beine und stürzte sich winselnd auf die Leiche. Mit einem derben Fluch bückte sich Wulfhard, packte den kleinen Köter am Nackenfell und schleuderte ihn aus der Hütte. Isentrud sah das Blut ihres Mannes in dem rauen Hundefell und begann zu würgen.
»Isentrud!« Wulfhard hatte die Tür hinter sich geschlossen und kam auf die Frau zu. »Erklär mir gefälligst, was …«
Hilflos stampfte sie mit dem Fuß auf. Der Schneematsch, der in unregelmäßigen Flecken die Grashalme bedeckte, spritzte auf. »Jetzt geh doch endlich!«, schrie sie mit sich überschlagender Stimme. »Hörst du nicht? Sie kommen schon. Willst du hier gesehen werden?«
Wulfhard erstarrte. In der Stille waren deutlich Stimmen zu hören, die rasch lauter wurden. »Die guten Buchhorner«, presste er zwischen den Zähnen hervor, »Blut riechen die auf jede Entfernung. Aber was wird aus dir?« Er streckte die Hand aus, doch Isentrud zuckte zurück.
»Geh!«
Er sah sie zweifelnd an und nickte schließlich. »Ich komme zurück, sobald ich kann. Mach dir keine Sorgen, mir fällt schon was ein!«, versprach er und rannte dem Hund hinterher, der hechelnd am Waldrand hockte.
»Mistvieh!« Wulfhard hob einen Stein auf, aber ehe er ihn werfen konnte, verschwand das Tier im Unterholz.
Unbemerkt schlug Wulfhard den Weg zum Anwesen des Grafen von Buchhorn ein. Von Zeit zu Zeit drehte er den Kopf und lauschte, aber niemand schien ihm zu folgen. Das einzige Geräusch kam von den Schneebrocken, die sich von den Ästen lösten, und dem Tropfen des Tauwassers. Der aufgeweichte Boden ließ seine Füße immer wieder bis zu den Knöcheln in kalter Erde einsinken. Von dem freundlichen Grün, das auf dem Anwesen bereits den Frühling ankündigte, war hier im Wald noch nichts zu sehen. Sogar der Himmel kam ihm kälter vor. Wulfhard beschleunigte seinen Schritt. Erst als er die Silhouette des gräflichen Anwesens vor dem blassblauen Himmel auftauchen sah, blieb er stehen, fuhr sich durch die ungebändigten roten Haare und klopfte die Schlammspritzer von seiner Hose. Sein Atem ging schwer, aber er hatte keine Zeit, seine Gedanken zu ordnen, denn kaum betrat er den Hof, als ihm eine füllige Frauengestalt den Weg versperrte.
»Wulfhard? Na endlich! Wo warst du? Ich habe dich überall gesucht.«
Wulfhard unterdrückte ein Stöhnen. Er drehte sich zu der alten Köchin um und zwang sich zu einem unverbindlichen Lächeln. »Es tut mir leid, Gudrun, aber ich muss gleich wieder weg!«
»Was? Untersteh
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