Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmass
den neuesten Roman von X veröffentlicht hat, sich alle viere ausreißen, um sofort genau denselben Roman nachzudrucken, in allen Punkten identisch, bloß mit einem neuen Umschlag.
Ich weiß, das klingt wie eine Idee von Achille Campanile, aber es ist die Realität. Daher nichts wie hin, es gilt unbedingt jeden zu interviewen, der gerade ein Interview gegeben hat, erst recht, wenn er es schon vielen anderen Zeitungen gegeben hat. Und bitte immer zum selben Thema. Läßt der Interviewte sich etwas entschlüpfen, was darüber hinausgeht, muß es gestrichen werden.
Wenn früher zwei Damen der guten Gesellschaft sich auf einem Fest begegneten und das gleiche signierte Modellkleid trugen, machten sie eine hysterische Szene. Und die Autoren von Witzen oder von Boulevardkomödien spielten mit diesem Gemeinplatz. Bei den Kindern ist es heute umgekehrt: Wenn der Schulkamerad das T-Shirt mit dem kleinen Dinosaurier oder dem Irren Kalender trägt, wollen die anderen es sofort auch haben, gerade um keine schlechte Figur zu machen. Unsere Zeitungen werden immer infantiler. Lasset die Kindlein zu uns kommen.
1994
Eine Umfrage zum Thema Umfragen?
Was macht man nicht alles für dummes Zeug an Sylvester, um die Zeit bis Mitternacht rumzukriegen. Die Snobs spielen Tombola, die schlichten Gemüter spielen die Goldbergvariationen für Okarina und Trommel. Letztes Mal veranstalteten ein paar Freunde ein Puppenspiel, bei dem die Zuschauer eingreifen durften. Und als die Puppe Hamlet anhob, »Sein oder Nichtsein« zu rezitieren, riefen die Zuschauer lauthals nach einer Umfrage. Gebührend verfälscht, ergab diese dann etwa zweieinhalb Prozent für »Sein« und dreieinhalb für »Nichtsein« sowie vierundneunzig Prozent für »keine Meinung«. Daraufhin verlangten die Anwesenden nach einer Debatte, und einige Freiwillige spielten einen Pater Theobald Glunz vom theologischen Seminar der Uni Tübingen (der sich besonders mit der »Verflüssigung des Seins« befaßt, die charakteristisch für eine Epoche des schwachen Denkens ist), einen Dr. Philo Blancoponte vom Lib-Lab des MIT, der nur in Formeln sprach, die geeignet waren, auch den größten Berufsoptimisten ins düsterste existentielle Unbehagen zu stürzen, sowie einen angeblichen Experten aus Japan, der sich dann aber als Nö-Schauspieler outete und infolgedessen nur einsilbige Melismen von sich gab.
Ich erzähle das, um zu zeigen, daß Umfragen inzwischen zu etwas geworden sind, was man kaum noch ernst nehmen muß. Aber wie ist es dazu gekommen?
Umfragen können gut oder schlecht gemacht sein, und eine der Arten, sie gut zu machen, besteht darin, die Fragen so zu formulieren, daß sie die Antworten nicht schon im voraus bestimmen. Es liegt auf der Hand, daß man, wenn man eine repräsentative Auswahl von Personen befragt, ob sie lieber sofortige Neuwahlen hätten oder unter gräßlichen Qualen an Aids sterben wollten, ein Plebiszit für Neuwahlen im Sinne der scheidenden Regierung bekommt. Aber es genügt nicht, wohlabgewogene Fragen an eine ebenso wohlabgewogene Personengruppe zu stellen. Wir haben uns verwundert, als neulich in einer TV-Diskussion über Korruption und Moral in der Politik am Anfang alle Anwesenden den Ex-Gesundheitsminister Francesco De Lorenzo im Gefängnis sehen wollten und am Ende dann viele ihre Meinung geändert hatten und ihn nach Hause schicken wollten. Dabei ist das ein ganz normales Phänomen: Wenn man unter Freunden diskutiert, kommt es vor, daß man zu Beginn des Abends eine bestimmte Meinung hat und zwei Stunden später zur entgegengesetzten tendiert, um dann am nächsten Morgen wieder zur eigenen Meinung zurückzukehren. Man kann uns am Mittwoch abend um neun Uhr fragen, ob wir einen bestimmten Politiker sympathisch finden, der gerade im Fernsehen interviewt worden ist, und wir können dazu beitragen, seinen Sympathiewert zu steigern; damit ist jedoch überhaupt nicht gesagt, daß wir, wenn wir einige Zeit später in der Wahlkabine sind, für ihn stimmen werden. Infolgedessen ist eine Umfrage, die uns sagt, welche Gefühle der Befragte im Moment der Befragung hat, von sehr geringer Aussagekraft.
Skrupellos eingesetzt, werden Umfragen folglich zu simplen propagandistischen Waffen, deren wissenschaftlicher Wert nicht viel höher ist als die Behauptung, daß neun von zehn Stars die Seife X vorzögen. Und des skrupellosen Gebrauchs von Umfragen als Propagandawaffen hat die Presse ja häufig Berlusconi und die Seinen bezichtigt. Aber nun ist mir der
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