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Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmass

Titel: Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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Jahren zu reproduzieren, und vor fast zehn Jahren habe ich in einem Streichholzbrief geschrieben, die neueste Verbesserung der Kommunikationstechnologie - ich meinte das spätere Internet - überwinde die von Marconi erfundene drahtlose Telegrafie durch eine kabelgestützte Telegrafie beziehungsweise markiere den Rückschritt vom Funk zum Telefon.
    Mindestens zwei Erfindungen unseres Jahrhunderts - die Plastikstoffe und die Kernfusion - versucht man heute rückgängig zu machen, weil man gemerkt hat, daß sie den Planeten vergiften. Fortschritt besteht nicht unbedingt darin, daß man um jeden Preis vorwärts geht.
    1998
    Obwohl das Reden vergeblich ist
    Polemiken, Divertissements und gute Vorsätze
Die Zeitungen werden immer infantiler
    Wer Bücher schreibt und sich in Zeitungen äußert, wird oft gebeten, ein Interview zu geben. Eigentlich ist das recht sonderbar, denn wenn jemand verschiedene Gelegenheiten gehabt hat, seine Gedanken auszudrücken, ist nicht einzusehen, warum er sie noch einmal ausdrücken soll. Um Interviews sollte man nur Leute bitten, die nicht schon durch ihren Beruf die Möglichkeit haben, ihre Gedanken in gedruckter Form darzulegen - also Ärzte, Politiker, Schauspieler, Stabhochspringer, Fakire, Richter oder Angeklagte. Überlegen wir einmal: Fänden wir es normal, wenn im Espresso ständig Interviews mit den Chefredakteuren der anderen Nachrichtenmagazine erschienen, und umgekehrt? Ich verstehe, warum es sinnvoll ist, einen Zeitungsmacher wie Indro Montanelli zu interviewen, weil er seine Zeitung verläßt, um eine andere zu gründen, aber was würden wir sagen, wenn die Chefredakteure der großen Blätter einander ständig gegenseitig interviewten? Nicht anders ist es jedoch, wenn der Schriftsteller Hinz den Schriftsteller Kunz interviewt.
    Gewiß hat es bedeutende Interviews gegeben, die neue Aspekte einer Persönlichkeit enthüllt haben, aber sie waren das Ergebnis langer Gespräche zwischen zwei Personen, die sozusagen das Schicksal zusammengeführt hatte. Undenkbar, daß dergleichen mehrmals am selben Tag vorkommt. Dennoch sind unsere Gazetten voller Interviews, und die Schriftsteller beklagen sich schon, daß niemand sie mehr rezensiert, weil es bequemer ist, wenn sie sich per Interview selbst rezensieren.
    Es mag einen Sinn haben, Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens zu interviewen, um ihnen etwas zu entlok-ken, was sie noch niemals gesagt haben, aber es hat keinen Sinn, einen Autor zu fragen, was er in seinem eben erschienenen Buch geschrieben hat. Erstens, weil die Leser das Buch ja noch gar nicht kennen und daher nicht wissen, wovon überhaupt die Rede ist; und zweitens, weil der Autor lange an seinem Buch gearbeitet hat und man daher annehmen darf, daß er darin sein Bestes gegeben hat, während er in dem Interview spontan sagt, was er gerade denkt, ohne es lange gefeilt und abgewogen zu haben, so daß er eher sein Schlechtestes gibt. Aber es hilft nichts: die Zeitung wird immer sagen, ohne Interview fehle der Reiz, und wenn es kein Interview gebe, werde auch keine Rezension folgen (und manchmal ist die Zeitung dann so froh über das Interview, daß sie die Rezension vergißt).
    Um den Lesern dieser Zeilen einmal vor Augen zu führen, wie sich das abspielt: stellen wir uns vor, in der Redaktion einer Tageszeitung trifft die Nachricht ein, daß Alessandro Manzoni soeben seinen Roman I Promessi Sposi veröffentlicht hat. Der Feuilletonchef eilt zum Chefredakteur: Das Konkurrenzblatt hat den Dichter Leopardi um erste Leseeindrücke gebeten, da wär’s doch ein toller Coup, den Professor De Sanctis um eine Kritik zu bitten. Der Chefredakteur schnaubt: »Ach was, De Sanctis oder De Diabolis! Der Kerl bringt es fertig, uns zehn volle Seiten hinzuknallen, die kein Mensch lesen will, reinste akademische Fliegenbeinzählerei! Interviews brauchen wir, machen Sie ein Interview mit diesem Manzoni. Entlocken Sie ihm unerhörte Erklärungen! Und sehen Sie vor allem zu, daß er sagt, was die Leser von ihm erwarten: warum er schreibt, ob er meint, daß der Roman tot ist, und solche
    * Francesco De Sanctis (1817-1883), bedeutendster italienischer Literaturkritiker seiner Zeit, setzte sich besonders für Manzoni ein (A. d. Ü.).
    Sachen! Irgendwas Fulminantes, nicht länger als eine Seite, das wär’s!«
    Hier folgt der Text des sensationellen Interviews.
    Signor Manzoni, können Sie uns Ihren Roman in zehn Worten zusammenfassen?
    Versuchen wir’s: Zwei lieben sich, wollen heiraten, erst

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