Des Teufels Sanduhr: Roman (German Edition)
schöne große Haus des Bauern auseinander und jagten sein Federvieh über den Hof. Wo wohl der Bauer geblieben war? Und wo war seine Frau, die noch immer im Wochenbett lag? Und auch den fünf Kindern war doch wohl nichts geschehen?
Anna lebte nun schon seit mehr als zehn Jahren in dem kleinen Häuschen auf dem großen Hof des Bauern Schulz. Damals war sie mit ihrem Mann Friedrich hier eingezogen, und als ihre Eltern gestorben waren, hatte sie auch ihre Schwester Mine aufgenommen. Alle drei arbeiteten für den Bauern, pflügten, säten, ernteten, fütterten, melkten, butterten, putzten, fegten, hackten Holz, holten Wasser und ertrugen die Launen ihres Arbeitgebers, weil er ihnen dafür ein kleines Häuschen mit einem winzigem Stall und einem Gemüsegarten zur Verfügung stellte. Das war ein hartes Leben, doch Anna beschwerte sich nicht, denn es war nun einmal ihr Los, als fünftes Kind einer armen Tagelöhnerfamilie zur Welt gekommen zu sein. Und so hatte sie nach zwölfstündiger Arbeit für den Bauern Schulz die Abende am Spinnrad als herrliche Entspannung empfunden, für die sie Gott dankte. Ja, sie hatte einmal ein eigenes Spinnrad besessen und sich damit ein Zubrot verdient, doch das war lange her. Irgendwann, als wieder einmal Marodeure ihr Unwesen trieben, war es von diesen Banausen zu Brennholz zerschlagen worden, während Anna, Mine und Friedrich zitternd, aber unentdeckt in ihrem Versteck gesessen hatten.
Friedrich war ein guter Mann. Beide kamen sie aus einem kleinen Nachbarort und kannten sich schon seit Annas Kindheit. Weil er der jüngste Sohn eines Kleinbauern war, war Friedrich nichts anderes übriggeblieben, als sich auf einem großen Hof als Knecht zu verdingen. Er war viel älter als Anna gewesen, um die zwölf Jahre. Doch das hatte ihn nicht davon abgehalten, das junge Mädchen eines Tages hinter einen Heuschober zu ziehen und sie, ehe sie sich’s versah, ihrer Jungfräulichkeit zu berauben. Aber da Friedrich trotz alledem recht an-ständig war, heiratete er das mittellose Ding, welches von dem einen Male gleich ein Kind unter dem Herzen trug. Einen Tag nach der Hochzeit zogen die beiden in ein Nachbardorf, um dort als Erntehelfer und Tagelöhner zu leben. Zwei Tage nach der Hochzeit verlor Anna ihr Kind, es fiel einfach tot aus ihr heraus.
Während sich Friedrich und Anna mehr schlecht als recht ihrem neuen entbehrungsreichen Leben zu zweit fügten, ereigneten sich viele hundert Meilen entfernt Dinge, deren Auswirkungen von schicksalshafter Tragweite für nahezu einen jeden Menschen in den deutschen Ländern werden sollten, so auch für Anna und Friedrich Pippel. Drei Tage nach ihrer Vermählung wurden in einer weit entfernten Stadt namens Prag zwei Statthalter des Kaisers unrühmlich zum Fenster hinausgeworfen. Sie überlebten, so hieß es, nur, weil sie – von den Armen der Mutter Gottes getragen – weich in einen dampfenden Misthaufen fielen. Diese merkwürdige Episode sollte der Beginn eines dreißig Jahre währenden Krieges werden, und Anna war eines seiner Opfer – ein Opfer, das nun nicht auf, sondern unter einem Misthaufen saß und wieder einmal wartete und bangte.
Sie kannte diese elendig langen Stunden nur zu gut, und jedes Mal, wenn sie sich verbergen und still sitzen musste, bis eine Gefahr wieder vorüber war oder sich als falscher Alarm herausgestellt hatte, zählte sie. Sie zählte – von eins bis hundert und dann wieder von vorn. Und jedes Mal, wenn sie bei hundert angekommen war, hob sie einen Finger ihrer verkrampften Faust. So lange, bis alle zehn Finger ausgestreckt waren, danach fing sie von Neuem an. Zählen konnte sie, das hatte ihr ihre erblindete Großmutter beigebracht, und Anna war immer stolz auf dieses Können gewesen.
Doch nun war es zu einer schrecklichen Plage geworden, und sie musste sich beherrschen, nicht laut zu sprechen, so sehr hatten sich die Zahlen in ihrem Ohr festgesetzt und schienen sie voll und ganz zu beherrschen. Sie versuchte sich mit anderen Gedanken von dieser Sucht abzulenken. Doch sosehr sie sich bemühte, schweiften ihre Erinnerungen immer nur zurück zu einem Tag, an den zu denken ihr noch mehr Leid verschaffte als das lästige Zählen.
Es war auf einem der häufigen Durchzüge des Halberstädters – wie der tolle Christian auch genannt wurde – passiert, als ein Reiter, ein bulliger, stinkender Mensch, über Anna hergefallen war. Dieser Überfall war nicht ohne Folgen geblieben, wieder war Anna schwanger geworden. Damals war sie
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