Des Teufels Sanduhr: Roman (German Edition)
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Was macht sie jetzt? Sie kniet sich nieder und hebt ihren Rock, muss sicherlich ihr Geschäft erledigen. Was für schöne weiße Haut sie hat, am ganzen Körper.
Ja, das ist ein guter Tag, das sieht man nicht allemal, so ein schönes Mädchen, ganz allein im Wald, und dazu hat sie eine so liebliche Stimme.
Jetzt steht sie wieder auf. Kann sie denn das ganze Holz tragen? Da fällt ihr schon wieder ein Zweig herunter. Immer mehr Holz sucht sie hier im Wald. Ja, such weiter, bleib noch hier, geh noch nicht wieder zurück ins Dorf.
Wie mag sie wohl heißen? Wie alt wird sie wohl sein? Soll man sich zeigen? Soll man ihr beim Tragen helfen? Nein, besser nicht. Nein, dann bekommt sie es noch mit der Angst zu tun. Besser, man bleibt in seinem Versteck und verhält sich ruhig.
Diese liebliche Stimme und diese schöne Haut. Ach, wie schön wäre es doch, sie zu berühren …
Was ist das? Woher kennt sie diese Melodie? Warum summt sie dieses Lied? Was soll das? Das ist nicht ihr Lied. Nicht ihr Lied. Nur die liebe Mama darf dieses Lied singen, nur sie. Woher kennt diese hier das Lied? Woher kennt sie es? Es ist Mamas Melodie. Nur Mama, Mama hat sie erfunden und einem vorgesungen. Immer wieder vorgesungen, so schön. So schön, wie diese es jetzt singt, aber mit Worten. Mama hat es mit Worten gesungen. Doch diese kann es auch gut. Man will sich hinsetzen und lauschen. Will dabei an Mama denken, an die liebe Mama.
Anna versuchte, ihre Beine, die sie noch immer nicht richtig spüren konnte, zu bewegen und sich langsam aus ihrer Hütte zu schleichen. Schritt für Schritt Setzte sie ganz vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Grell schien ihr die Sonne ins Gesicht, als sie auf den Hof hinaustrat. Sie glaubte fast erblinden zu müssen, so schmerzhaft war der Lichtunterschied zwischen dem Erdloch und der Mittagssonne, die erbarmungslos hell, aber herrlich warm und erschreckend unbekümmert auf Anna und das Elend hinunterschien, das sich auf dem Hof offenbarte.
Als Annas Augen sich endlich an die Helligkeit gewöhnt hatten, sah sie, was diese wütende Bande angerichtet hatte. Auf dem gesamten Hof verteilt lag reglos das Federvieh. Alle Hühner, Gänse und Enten des Bauern Schulz waren nicht mehr. Ein Kadaver fand sich neben dem anderen, die einen ohne Kopf, andere mit ausgerissenen Beinen und Flügeln.
Das gute Vieh, dachte Anna, wer soll das nur alles essen, bevor es verdirbt? Und inmitten von blutigen Federn lag auch die gutmütige Fee, der Hofhund. Sie hatte erst vor wenigen Tagen Welpen geworfen, doch von den Kleinen war weit und breit nichts zu hören und nichts zu sehen.
Vorsichtig ging Anna auf das Haupthaus zu, wo der Bauer mit seiner Familie wohnte und von wo vermutlich auch das entsetzliche Geschrei der frivolen Katharina zu hören gewesen war. Die riesige Dielentür stand weit offen, und als Anna langsam näher kam, da erblickte sie den Bauern Schulz.
Aufgeknüpft hatten sie ihn. Dort, wo immer die herrlichen Mettwürste und der duftende Schinken an einer Stange über dem Feuer gehangen hatten, hing nun er. Die Zunge quoll dick und blau aus dem Mund heraus, und mit weit hervorstehenden Augen blickte er auf Anna hinab. Grausig sah er aus, der Bauer, wie er nun so dahing.
Sie hatte ihn nie gemocht, er war laut und geizig gewesen. Doch Arbeit hatte er immer für sie gehabt. Nun war er dahin. Anna bekreuzigte sich schnell, bevor sie sich weiter um-sah. Auch hier im Haus war alles verwüstet, und als ihr Blick die offene Tür zu der kleinen Schlafkammer neben der Küche streifte, da konnte sie dort im Innern zwei nackte Frauenfüße erkennen.
Anna traute sich nicht, näher hinzugehen. Zwar hatte sie schon in ihrer Kindheit ständig tote Menschen gesehen. Aufgebahrt mit Kerzen und Blumen, deren Duft den Leichengeruch überdecken sollte, hatten sie friedlich in ihren Häusern gelegen, bevor sie zum Kirchhof gebracht worden waren. So war das bei ihren Großeltern und auch bei all ihren zu früh ge-storbenen Geschwistern gewesen – ganz ruhig hatten sie ausgesehen, als ob sie schliefen. Die Toten, die Anna jedoch in den letzten Jahren zu Gesicht bekommen hatte, hatten selten einen solch friedlichen Anblick geboten – das brachte der Krieg mit sich. Doch gewöhnen konnte Anna sich nicht daran. Denn ein friedlicher Tod kannte nur ein Gesicht, ein grausamer hingegen hatte zahllose verschiedene Gesichter. Und die Leiche dort in der Kammer, das war sicherlich die Katharina.
Die ganze Zeit über war Anna ruhig
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