Des Teufels Sanduhr: Roman (German Edition)
immer wieder eindöste, sich zwingen wollte, das Bett zu verlassen, sich aber eine um die andere Minute gönnte und dann erst am Mittag mit hohem Fieber wirklich erwachte. All ihre Glieder waren schwer, ein dumpfes, erdrückendes Gefühl von Furcht und gleichzeitig von Trägheit umgab sie, und es kostete sie unendliche Kraft, sich schließlich aufzuraffen, sich von ihrem Baumstamm zu erheben und auf die Suche nach ihrer Schwester zu gehen.
Der Bauer sollte nicht der einzige erhängte Mensch sein, den Anna an diesem schönen Sommertag finden würde.
Über Baumwurzeln und Geäst stolpernd, versuchte sie sich wieder in Richtung des Dorfes durchzuschlagen, an den Waldrand, wo ihre Schwester auf Brennholzsuche gegangen war. Annas Lungen schmerzten, und ihr Blut rauschte derartig laut in ihren Ohren, dass sie kaum noch die Geräusche des Waldes wahrnehmen konnte. Vor Angst, Hunger und Erschöpfung konnte sie nur noch weiße und schwarze Punkte vor den Augen sehen, doch sie musste weiter, um dann zusammen mit Mine so schnell wie möglich von hier fortzukommen.
Endlich – dort hinten konnte sie den verschwommenen Umriss der alten Eiche erkennen, die schon seit Hunderten von Jahren am Waldrand stand und einen jeden begrüßte, der sich vom Dorf in den Wald begab. Hier suchte Mine immer das Brennholz, und hier musste sie sich irgendwo versteckt haben.
Sollte Anna nach ihr rufen? Besser nicht, wer wusste schon, wer und was sich hier im Wald verbarg. Vielleicht waren auch die Marodeure nicht weit. Der Wald war immer ein guter Ort, um in Ruhe die frische Beute zu begutachten und aufzuteilen. Nein, Anna wollte keine Aufmerksamkeit erregen, sie wollte sich so still und leise wie möglich auf die suche nach Mine machen. Hinter jeden Baum wollte sie schauen, jeden Stein umdrehen, doch auffallen wollte Sie nicht. Niemand sollte sie sehen, denn niemand sollte ihr wehtun, niemals mehr wollte sie auch nur einer Menschenseele begegnen.
Dort drüben zwischen dem Geröll ist ein gutes Versteck, keiner wird einen dort finden. Dort kann man bleiben, dort kann man verschnaufen und vielleicht auch die Nacht verbringen.
Und dann könnte man sich immer und immer wieder an alles erinnern, was soeben geschehen ist. Jeden einzelnen Moment könnte man sich wieder vor Augen rufen, jede Bewegung, jedes Geräusch, jedes Gefühl erneut erleben.
Es war nicht schön gewesen, grausam war es gewesen, abscheulich und ekelhaft. Warum nur hatte das schon wieder geschehen müssen? Hätte man es verhindern können? Dabei hat sie so schön gesungen. Mamas Lied gesungen.
Und die andere Frau? Was sollte man mit ihr nur tun? Durch den Wald war sie gelaufen. Angst hatte sie gehabt. Sollte man umdrehen, sollte man ihr folgen, oder sollte man sich besser hier verstecken und warten?
Da, was war das? Ein Schrei. Die Frau. Jetzt hat sie alles gesehen.
Vor wenigen Stunden noch war Anna vor dem an einem Strick baumelnden Bauern, den nackten Füßen der Magd und den Schreien eines Säuglings davongelaufen, und nun stand sie hier – wie angewurzelt, bewegungslos, fassungslos. Wieder ein Strick, wieder nackte Frauenfüße, und wieder das Wimmern eines Neugeborenen. Nur war es dieses Mal kein Menschenkind, sondern ein kleiner Hund.
Der Welpe war festgebunden am rechten Fuß ihrer Schwester, von dessen großem Zeh immerzu Blut auf das hilflose Lebewesen tropfte. Das Blut kam aus Mines Kehle. Sie war durchtrennt worden, und durch die tiefe Wunde zog sich ein Seil, mit dem die Schwester an einen der unteren dicken Äste der alten Eiche gehängt worden war. Der Hals mit der tiefen Wunde würde das Gewicht des schlaffen, toten Körpers nicht mehr lange halten können. Bald würde er reißen, und die arme Mine würde in zwei Teilen auf dem Waldboden liegen.
Anna wurde übel. Sie wankte erst nach vorn, dann fiel sie nach hinten, fiel weich auf Moosboden und kam nach wenigen Sekunden wieder zu sich, weil sie sich an ihrem eigenen Erbrochenen derartig verschluckte, dass sie minutenlang husten musste. Mühsam versuchte sie auf die Knie zu kommen, krabbelte auf allen vieren nach vorn und knotete mit zitternden Händen den kleinen Hund von den Füßen ihrer Schwester. Dann suchte Sie nach dem Messer, welches sie immer im Unterrock trug, holte es hervor, kam mit letzter Kraft auf ihren Füßen zu stehen, stellte sich sogar auf die Zehenspitzen und schnitt das Seil, an dem die liebe Mine hing, ab. Auch Mine fiel weich auf den Moosboden.
Sie war ein so schönes Mädchen gewesen,
Weitere Kostenlose Bücher