Des Todes Dunkler Bruder
einem altmodischen Flachmann trinkt, den er aus einer Tasche seines Rucksacks gezogen hat. Er kann das nicht sehr gut, nicht so wie viele andere Cops, er ist nicht wirklich ein Trinker. Aber jetzt ist sie leer, und wenn er jemals sagen will, was er sich vorgenommen hat, dann ist jetzt der richtige Zeitpunkt gekommen.
»Du bist anders, Dexter«, sagt er.
Ich wende den Blick von den leuchtenden Sternen. Rund um die kleine sandige Lichtung tanzen Schatten im letzten Glühen des Feuers. Einige wandern über Harrys Gesicht. Er ist mir fremd, als hätte ich ihn nie zuvor gesehen. Entschlossen, unglücklich, ein wenig betrunken.
»Wie meinst du das, Dad?«
Er weicht meinem Blick aus. »Die Billups sagen, dass Buddy verschwunden ist«, sagt er.
»Die lärmige kleine Töle. Er hat immer die ganze Nacht gekläfft. Mom konnte nicht schlafen.«
Mom brauchte ihren Schlaf. Wenn man an Krebs stirbt, braucht man viel Ruhe, und die bekam sie nicht, solange der schreckliche kleine Köter von gegenüber jedem Blatt hinterherkläffte, das den Bürgersteig entlangwehte.
»Ich habe das Grab gefunden«, sagt Harry. »Es liegen eine Menge Knochen drin, Dexter. Nicht nur Buddys.«
Was soll ich dazu sagen? Ich nehme mir vorsichtig eine Hand voll Kiefernnadeln und warte auf Harry.
»Seit wann machst du das schon?«
Ich sehe prüfend in Harrys Gesicht, dann schaue ich quer über die Lichtung zum Strand. Dort liegt unser Boot, es schaukelt sanft auf den Wellen. Die Lichter von Miami sind rechts, ein weiches weißes Glühen. Ich kann nicht einschätzen, worauf Harry hinauswill, was er hören möchte. Aber mein Adoptivvater ist sehr direkt, und was ihn angeht ist die Wahrheit immer eine gute Idee. Er weiß sowieso immer alles oder findet es heraus.
»Anderthalb Jahre«, sage ich.
Harry nickt. »Warum hast du damit angefangen?«
Eine sehr gute Frage, die mich im Alter von vierzehn überfordert. »Es ist einfach … eine Art … ich muss es einfach«, versichere ich ihm. Selbst damals, so jung und schon so geschmeidig.
»Hörst du eine Stimme?«, will er wissen. »Etwas oder jemanden, der dir befiehlt, etwas zu tun, und dann musst du es machen?«
»Äh«, erwidere ich mit der Eloquenz eines Vierzehnjährigen. »Nicht unbedingt.«
»Erzähl es mir«, sagt Harry.
Oh, ein Mond, ein guter feister Mond, etwas Größeres, das man anstarren kann. Ich umkrampfe eine weitere Hand voll Kiefernnadeln. Mein Gesicht brennt, als hätte Dad mich aufgefordert, von Sexphantasien zu erzählen.
Was auf gewisse Weise – »Es, äh … eine Art, du weißt schon. Ein Wesen « , sage ich. »In mir. Beobachtet mich. Vielleicht, hm. Lachend? Aber nicht wirklich eine Stimme, einfach …« Ein viel sagendes Teenager-Achselzucken. Aber Harry scheint einen Sinn darin zu erkennen.
»Und dieses Etwas. Es zwingt dich, zu töten.«
Hoch über unseren Köpfen kriecht langsam ein behäbiger Jet vorüber. »Nein, äh. Es zwingt mich nicht«, erwidere ich. »Es lässt das nur wie eine gute Idee aussehen.«
»Hast du jemals etwas anderes töten wollen? Etwas Größeres als einen Hund?«
Ich versuche zu antworten, aber mir scheint etwas im Hals zu stecken. Ich räuspere mich. »Ja«, sage ich.
»Einen Menschen?«
»Niemand Speziellen, Dad. Einfach …« Ich zucke wieder die Achseln.
»Warum hast du es nicht getan?«
»Weil … ich dachte, es würde euch nicht gefallen. Dir und Mom.«
»Das ist alles, was dich davon abgehalten hat?«
»Ich, äh … ich wollte nicht, dass du … wütend auf mich bist. Äh … du weißt schon. Enttäuscht.«
Ich werfe einen verstohlenen Blick auf Harry. Er sieht mich unbewegt an. »Sind wir deshalb hier, Dad? Um darüber zu reden?«
»Ja«, sagt Harry. »Wir müssen dich in den Griff kriegen.«
In den Griff kriegen, ja klar. Eine typische Harry-Vorstellung über Lebensführung, mit Krankenhausfluren und gewienerten Schuhen. Und selbst damals wusste ich: Ab und an jemanden abzuschlachten würde früher oder später meinem ordentlichen Leben in die Quere kommen.
»Wie?«, frage ich, und er mustert mich lange und intensiv, und als er erkennt, dass ich ihm Schritt für Schritt gefolgt bin, nickt er.
»Braver Junge«, sagt er. »Nun.« Und im Widerspruch zu dieser Ankündigung vergeht lange Zeit, bis er wieder zu sprechen beginnt. Ich beobachte die Lichter eines vorüberfahrenden Bootes, vielleicht zweihundert Meter von unserer kleinen Bucht entfernt. »Nun«, sagt Harry wieder, und ich sehe ihn an. Aber jetzt schaut er weg,
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