Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Des Todes Dunkler Bruder

Des Todes Dunkler Bruder

Titel: Des Todes Dunkler Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeff Lindsay
Vom Netzwerk:
über das ersterbende Feuer, in die Zukunft irgendwo da draußen. »Es geht so«, erklärt er. Ich höre aufmerksam zu. So beginnt Harry, wenn er einem eine grundlegende Wahrheit mitteilt. Als er mir zeigte, wie man einen Curveball wirft und den Angelhaken auswirft. Es geht so, sagte er immer, und so war es dann auch, einfach so.
    »Ich werde alt, Dexter.« Er wartete auf meinen Widerspruch, aber ich sage nichts, und er nickt. »Ich glaube, dass man die Dinge anders sieht, wenn man älter wird«, fährt er fort. »Nicht unbedingt, weil man nachsichtiger wird oder die Dinge im Graubereich statt schwarzweiß sieht. Ich bin wirklich überzeugt, dass ich vieles anders verstehe. Besser.« Er sieht mich an, Harrys Blick. Aufrichtige Liebe aus blauen Augen.
    »Okay«, sage ich.
    »Vor zehn Jahren hätte ich dich noch in irgendeine Anstalt gebracht«, sagt er, und ich zwinkere. Das hätte beinah wehgetan, wenn ich nicht schon selbst daran gedacht hätte. »Heute«, sagt er, »weiß ich es, glaube ich, besser. Ich weiß, was du bist, und ich weiß, dass du ein guter Junge bist.«
    »Nein«, sage ich, es kommt leise und schwach heraus, aber Harry hört es.
    »Doch«, sagt er energisch. »Du bist ein guter Junge, Dex, das weiß ich. Ich weiß es.« Nun fast zu sich selbst, vielleicht um der Wirkung willen, und dann senkt er seinen Blick in meinen. »Sonst würde es dich nicht kümmern, was ich denke oder was Mom denkt. Du würdest es einfach tun. Du kannst es nicht ändern, das weiß ich. Weil …« Er hält inne und sieht mich einen Moment lang an. Es bereitet mir Unbehagen.
    »Woran kannst du dich von früher noch erinnern?«, fragt er. »Du weißt schon. Bevor wir dich angenommen haben.«
    Es tut immer noch weh, aber ich weiß nicht warum. Ich war erst vier. »An gar nichts.«
    »Gut«, sagt er. »Niemand sollte sich an so etwas erinnern.« Und zeit seines Lebens werde ich von ihm nicht mehr darüber erfahren. »Aber auch wenn du dich nicht erinnerst, Dex, es hat dir etwas angetan. Diese Dinge haben dich zu dem gemacht, was du bist. Ich habe mit einigen Leuten darüber gesprochen.« Und befremdlicherweise schenkt er mir ein kleines, fast schüchternes Harry-Lächeln. »Ich habe mit so etwas gerechnet. Was mit dir geschehen ist, als du ein kleines Kind warst, hat dich geformt. Ich habe versucht, es wieder gutzumachen, aber …« Er zuckt die Achseln. »Es war zu stark, zu übermächtig. Es ist zu früh auf dich eingedrungen und wird bleiben. Es gibt dir den Wunsch ein zu töten. Und du kannst nichts dagegen tun. Du kannst es nicht ändern … aber …«, sagt er und schaut wieder weg, wohin, kann ich nicht sagen. »Aber du kannst es kanalisieren. Kontrollieren. Auswählen …« Er formuliert jetzt sehr sorgfältig, sorgfältiger, als ich es jemals bei ihm gehört habe. »Wählen was … oder wen … du tötest …«
    Und er lächelt mich auf eine Weise an, die ich niemals zuvor gesehen habe, ein Lächeln, so trost- und freudlos wie die Asche des ersterbenden Feuers. »Es gibt viele Menschen, die es verdient haben, Dex …«
    Und mit diesen wenigen Worten gab er meinem ganzen Leben Gestalt, meinem Wesen, meinem wer und was ich bin. Dieser wunderbare, alles sehende, allwissende Mann. Harry. Mein Vater.
    Wäre ich nur fähig zu lieben, wie hätte ich Harry geliebt.
    Schon so lange her. Harry ist lange tot. Aber seine Lehren lebten weiter. Nicht weil ich irgendwelche warmen rührseligen Emotionen hegte. Weil Harry Recht hatte.
    Ich hatte das wieder und wieder bewiesen. Harry wusste Bescheid, und er war mein Lehrmeister.
    Sei achtsam, sagte Harry. Und er brachte mir bei, achtsam zu sein, wie es nur ein Cop einem Killer beibringen konnte.
    Sorgfältig unter denen auszuwählen, die es verdient hatten. Absolut sicherzugehen. Und danach aufzuräumen.
    Keine Spuren zu hinterlassen. Und immer jede emotionale Verwicklung zu vermeiden; sie konnte zu Fehlern führen.
    Und vorsichtig zu sein erstreckte sich selbstverständlich weit über das Töten hinaus. Vorsichtig zu sein hieß auch, ein vorsichtiges Leben zu führen. Sich zu splitten.
    Sich zu sozialisieren. Das Leben zu imitieren.
    Was ich alles sehr sorgfältig getan hatte. Ich war ein fast perfektes Hologramm. Über jeden Verdacht, jeden Vorwurf erhaben, gegen jegliche Verachtung gefeit. Ein ordentliches, höfliches Ungeheuer, der Junge von nebenan. Selbst Deborah ließ sich mindestens die Hälfte der Zeit täuschen. Natürlich glaubte sie auch, was sie glauben wollte.
    Und gerade

Weitere Kostenlose Bücher