Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Des Todes Dunkler Bruder

Des Todes Dunkler Bruder

Titel: Des Todes Dunkler Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeff Lindsay
Vom Netzwerk:
Situation nicht beizupflichten.
    Meine dummen, selbstzerstörerischen Grübeleien kehrten in leuchtenden, spöttischen Farben zurück.
    Selbstverständlich war ich es nicht – wie konnte ich es sein? Das würde ich doch wissen? Offensichtlich nicht, lieber Junge. Offensichtlich weißt du in Wahrheit überhaupt nichts. Denn unser tiefdunkles, dusseliges Hirn gaukelt uns alle möglichen Dinge vor, lässt Realität und Vorstellung verschwimmen, nur Bilder lügen nicht.
    Deb entfesselte eine neue Reihe brutaler Angriffe auf den Stuhl und richtete sich dann auf. Ihr Gesicht war stark gerötet, und ihre Augen glichen den Augen Harrys mehr, als ich es jemals zuvor gesehen hatte.
    »In Ordnung«, sagte sie. »Es geht so«, und sie blinzelte und hielt einen Moment inne, als uns beiden klar wurde, dass sie soeben eine Redewendung von Harry benutzt hatte.
    Und nur für eine Sekunde befand sich Harry hier mit uns im Raum, mit Deborah und mir, so unterschiedlich und doch beide Harrys Kinder, die beiden seltsamen Produkte seines einzig-artigen Vermächtnisses. Deborahs Rücken verlor etwas von seiner stählernen Härte, und sie wirkte fast menschlich, etwas, das ich seit einiger Zeit nicht mehr gesehen hatte. Sie starrte mich einen langen Augenblick an und wandte dann den Blick ab.
    »Du bist mein Bruder, Dex«, sagte sie. Ich war ganz sicher, dass sie ursprünglich etwas anderes hatte sagen wollen.
    »Niemand wird dir einen Vorwurf daraus machen«, versicherte ich ihr.
    »Gott verdamme dich, du bist mein Bruder « , knurrte sie, und ihre Wildheit überraschte mich vollkommen. »Ich weiß nicht, was zwischen dir und Dad vorging. Die Sachen, über die ihr zwei nie gesprochen habt. Aber ich weiß, was er getan hätte.«
    »Mich ausgeliefert«, sagte ich, und Deborah nickte.
    »Das ist richtig«, sagte sie. »Er hätte dich ausgeliefert. Und das werde ich auch tun.« Sie wandte den Blick ab, sah aus dem Fenster, weit bis zum Horizont.
    »Ich muss diese Verhöre beenden«, sagte sie. »Ich überlasse es dir festzustellen, wie relevant dieser Beweis ist. Nimm ihn mit zu deinem Computer nach Hause und stell fest, was du festzustellen hast. Und wenn ich hier fertig bin, komme ich bei dir vorbei, bevor ich mich wieder zum Dienst melde und höre mir an, was du zu sagen hast.« Sie sah auf ihre Uhr. »Um zwanzig Uhr. Und wenn ich dich dann ausliefern muss, werde ich es tun.«
    Sie sah mich wieder lange an. »Gottverdammt, Dexter«, sagte sie weich und verließ den Raum.
    Ich ging hinüber zum Fenster und warf einen Blick hinaus. Unter mir wirbelte noch immer unverändert der Zirkus aus Cops, Reportern und gaffenden Waschlappen. In weiter Ferne jenseits des Parkplatzes konnte ich den Expressway erkennen, auf dem Autos und Lastwagen mit dem in Miami erlaubten Tempo von 95 Meilen pro Stunde entlangrasten. Und dahinter lag in dunstiger Entfernung die hoch aufstrebende Skyline von Miami.
    Und hier im Vordergrund stand der dösige, dumpfbackige Dexter und starrte aus dem Fenster auf eine Stadt, die nicht sprach und ihm auch dann nichts erzählen würde, wenn sie es täte.
    Gottverdammt, Dexter.
    Ich weiß nicht, wie lange ich aus diesem Fenster starrte, aber langsam dämmerte mir, dass dort draußen keine Antworten lagen. Aber in Captain Pickels Computer mochten welche sein. Ich wandte mich zum Schreibtisch und schaute nach. Das Gerät besaß einen CD-Brenner.
    In der obersten Schublade entdeckte ich einen Stapel beschreibbarer CDs. Ich legte eine in den Schacht, brannte den kompletten Bildordner und nahm die CD heraus.
    Ich hielt sie, betrachtete sie; sie hatte nicht viel zu sagen, und vielleicht bildete ich mir das schwache Kichern der düsteren Stimme nur ein, das ich vom Rücksitz zu hören glaubte. Aber nur um sicherzugehen, löschte ich das Dokument von der Festplatte.
    Auf meinem Weg nach draußen wurde ich von den diensttuenden Broward-Cops weder aufgehalten noch sprachen sie mich an, aber es schien mir, als musterten sie mich mit harter, misstrauischer Gleichgültigkeit.
    Ich fragte mich, ob es sich so anfühlte, ein Gewissen zu haben. Ich nahm an, dass ich das niemals herausfinden würde – anders als die arme Deborah, die von zu vielen Loyalitäten zerrissen wurde, die unmöglich nebeneinander im gleichen Verstand existieren konnten. Ich bewunderte ihre Entscheidung, mir die Feststellung der Relevanz des Beweises zu überlassen. Sehr sauber. Es hatte viel von Harry, so, als würde man eine geladene Waffe auf dem Tisch eines

Weitere Kostenlose Bücher