Deutschboden
nüscht.« Wenn überhaupt, so Raoul, dann würde er regional fahren, für eine Molkerei, einen Bauunternehmer, damit er nachmittags wieder bei sich zu Hause in der Koje liege.
Eric plante, sich bei der Komparsenagentur Wanted registrieren zu lassen, das Mitmachen bei einer Hollywood-Produktion habe ihm zu viel Spaß gemacht, diese Sorte Vergnügen wollte er sich jetzt öfter besorgen. Crooner hatte demnächst seine Prüfung zum Finanzwirt II zu bestehen. Mit dem neuen Schein konnte er als Vermögensberater auch Finanzierungen über eine Million tätigen.
Aha. Die Jungs guckten ziemlich unbeeindruckt. Und Rampa berichtete, dass sein Kumpel Schraube bei einem Tattoo-Saloon auf der Danziger Straße in Berlin Arbeit gefunden habe, 90 Euro die Stunde, Schraube sei sogar schon im Besitz der Schlüssel.
»Er hat als Maurer schon komplett aufgehört«, erzählte Rampa, »ist jetzt nur noch in Berlin.«
Und? War Rampa traurig, dass er Schraube, den Kumpel und Maurerkollegen, an ein Tattoostudio in Berlin verloren hatte?
»Nicht wirklich«, erklärte Rampa, »ich bin ja bald auch da.« Und Rampa setzte seinen triumphierenden Gesichtsausdruck auf. »Na klar! Ich will da als Piercer anfangen – da habe ich zwar keine Ahnung von, aber das kann man ja lernen. Ein Typ namens Fuchser, der ist Profi-Piercer, der will mich ausbilden. Das hat er zumindest gesagt.«
Wir saßen im Proberaum der Band 5 Teeth Less in Kurtschlag bei Oberhavel, Hardrockhausen. Es gab wenig zu besprechen, wobei, wie immer, die ganze Zeit gesprochen wurde.
Dann sagte Raoul: »Irgendwo haben wir unseren Platz da in der Musikszene, da ist ein Platz für uns reserviert. Es muss uns nur jemand den Weg dorthin zeigen.« Und Eric erklärte: »Musik und Geld damit verdienen, das wäre der Traum.« – »Das wäre Sonnenschein für immer«, sagte Rampa, »das wäre der absolute Hauptgewinn.«
Und wir saßen noch ein bisschen, und über Erics T-Shirt-Ausschnitt sah ich noch einmal die in Schreibschrift gestochene Tätowierung »Not like you«. Sie sah wirklich sagenhaft gut aus. Diese Tätowierung, so hatte Eric erzählt, hatte wehgetan, mehr als andere Tätowierungen, weil die Haut am Schlüsselbein empfindlich war.
Und ich verstand, alles andere als plötzlich (mehr so ganz allmählich, so wie sich wahrscheinlich alle wirklichen Erkenntnisse einstellen), welche Bedeutung die Tätowierungen für Raoul, Eric, Rampa und die anderen Jungs hatten: Sie waren ihr Ausdruck von Schönheit, ein Beharren auf Schönheit und Würde, die es in ihrem Alltag nicht gab. Und tatsächlich, auf Erics Hals konnte ich mehr Lebendigkeit, mehr Würde, Trotz und Kraft erkennen – ein großartiges Anherrschen der Welt und ihrer Grenzen – als in den Gesichtern der meisten erfolgreichen Großstadtmenschen, die ich kannte.
Und so saßen wir noch ein bisschen, die Schuhe auf den Couchtisch gestellt, zwischen den leer gesoffenen und den noch halb vollen Flaschen, und irgendwann standen wir auf und nahmen die Autos nach Oberhavel.
Als ich eintrat, nahm Trainer Brunner mich am Arm und erklärte, dass ich heute beim Sparring dran sei. Ich solle mich deshalb besonders gut warm machen. Der Trainer zeigte auf René, der schon in den Seilen stand und, sein Spiegelbild betrachtend, auf und ab sprang. Brunner ging zu René rüber, zog ihm am T-Shirt und zeigte auf mich:
»Ihr zwei.«
Die ganzen Männlichkeitsposen, die lächerlichen und besonders lächerlichen – das betont langsame Schnürsen-kel-Zubinden, das Räuspern, die Dehn- und Lockerungsübungen, das Zurschaustellen der körperlichen Probleme und Wehwehchen in der Gesichtsmimik –, keine Ahnung warum, aber ich liebte das alles so. Der Boxsport war jagerade deshalb toll, weil in seiner demonstrativen Männlichkeit so viele klassisch weibliche Attribute, Zartheit, Verletzlichkeit, Wehleidigkeit lagen, also eher die Unmöglichkeit von Männlichkeit als die Behauptung derselben. René trug sein Hatewear-T-Shirt.
Ich schwang den Oberkörper zwischen den Seilen hindurch und in den Boxring hinein und sah, aus einem Augenwinkel, dass uns der ganze Boxclub und Trainer Maik zusahen. Ich hatte mich so warm trainiert, dass mir der Schweiß vom Kopf bis zu den Kniekehlen auf der Haut stand. Ich kannte die Stresssituation des Sparrings. Ich hatte mir vorgenommen, mich klassisch zu verteidigen, also die Doppeldeckung oben zu halten, möglichst oft die Führhand zu schlagen, also die zweite und dritte Führhand, und so den
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