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Deutschboden

Deutschboden

Titel: Deutschboden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Uslar
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Verweisung vom Tatort und die soziale Ächtung nach sich zogen?
    Wenn der Reporter andauernd auf zwei Ebenen operierte– auf einer realen, der vor Ort, und auf einer vermittelten, der in der Reflexion, die unentwegt ein- und aussortierte, was vom gerade Erlebten sich in einem späteren Text verwenden lassen würde –, wie konnte das vermieden werden, was der GAU jeder Reportage ist, nämlich, dass das Vermittelte sich vor das Wirkliche schob und dabei wertvolle Echtzeit, Echtwelt, Echtwirklichkeit verloren gingen? Wie?
    Entscheidende Fragen.
     
    Mein Notizbuch, das war jetzt schon klar, würde ich in einer Wirklichkeit, die eben keine Pressekonferenz, sondern eine Hauptstraße, ein Boxclub und ein Pilslokal war, kaum einsetzen können. Stattdessen wollte ich meinen digitalen Aufnahmestift der Firma Olympus (neunzig Stunden Aufnahmezeit, Files einzeln löschbar) verwenden. Der Stift hatte den Vorteil, dass er nicht zu klein war. Er ließ sich wie ein Handy an Ohr und Mund halten, und so würde ich die Straßen auf- und ablaufen und in das Gerät hineinsprechen.
     
    Ich ging mal dringend davon aus, das erklärte ich nun der Runde, dass an meinem Tatort nichts bis ganz, ganz wenig passieren würde.
    Die Frage war, was passierte, wenn man nicht wegging, sich fortgesetzt dem Nichts zur Verfügung stellte, am nächsten Tag einfach aufs Neue auf der Bildfläche erschien und das Nichts ansah.
    Es würde akut darum gehen, dieses Nichts zu beschreiben.
    Wenig Geschichte war kein Problem.
     
    Erst mal keine Geschichte war erst mal gar kein Problem. Ich würde so lange an einem Ort bleiben, bis die Geschichte herauskam, genau genommen: Meine Geschichte war das, was kam, wenn man sich am nächsten Tag wieder zur Verfügung stellte.
     
    Blick in die Berliner Runde.
     
    Ich hatte vor allem wahnsinnige Angst.
    Normal.
    Ich hatte Angst vor den andauernden Blicke-Kämpfen, zu denen man als Fremder, Zugereister, Eindringling, Fremdling, Reporter etwa neuntausend Mal pro Tag, Tag für Tag aufs Neue, aufgefordert war: Wer guckte wie? Wie ging das noch mal, das Normalgucken? Sollte man den Blick jetzt besser hoch oder runter nehmen? Half grinsen oder, Hilfe, machte das die, die einen böse anguckten, zusätzlich aggressiv? Wie begegnete man dem Blick des Einheimischen so, dass es nicht sofort voll eins auf die Fresse gab?
    Vor dem ersten Betreten des Wirtshauses mit dem »Premiere Sports Bar«-Schild hatte ich genauso Angst wie vor der stummen Mauer der am Tresen stehenden und die Biergläser haltenden Männer.
    Es würde überhaupt andauernd um das Durchstehen von Situationen gehen: Wie kam ich durch diese und jene Situation durch, ohne allzu großen Schaden zu nehmen?
     
    Mich interessierte eigentlich nichts, das war ja das Geile. Neonazis interessierten mich nicht. Landpfarrer interessierten mich nicht. Bürgermeister, die wider Erwarten einen rundherum sympathischen, vernünftigen undbodenständigen Eindruck machten, interessierten mich nicht. Auskunftsfreudige Fleischermeister mit der für die Region archetypischen Biografie, die mächtig was zu erzählen hatten, interessierten mich nicht. Der Jugendliche an sich, der Baseballkappe trug, Rechtsrock hörte und im Gespräch allmählich auftaute, interessierte mich schon mal gar nicht.
    Ich hatte nichts abzuarbeiten.
    Ich hatte keinen Auftrag.
    Ich war auf keiner Spur.
    Ich war ja nicht so ein professionell neugieriger und gewiefter Nachrichten-Magazin-Journalist, der da seine Recherche machte oder was.
    Deshalb konnte mir eigentlich nichts passieren.
    Ich würde keinen Scheißjugendclub in der Kleinstadt aufsuchen, das brauchte ich nicht, das war nicht meins, da hatte ich keinen Bock drauf, das sollten die anderen, die Magazin-Journalisten, tun.
     
    »Ich liebe die DDR, so wie ich Amerika liebe, also nicht New York und Los Angeles, sondern das große Land, das zwischen diesen beiden Städten liegt. Die DDR«, erklärte ich nun in die Runde hinein, »ist ja eins zu eins wie die USA. Essen, Kleidung, Inneneinrichtung, unterirdische Einkaufsparadiese, alles.«
    Die DDR?
    Richtig. Ich sagte: die DDR.
    Rasch musste ich nun erklären, warum ich die neuen Bundesländer noch im zwanzigsten Jahr der Wende als DDR bezeichnete. Kam irgendwie cooler, fand ich, stolz, hart, selbstbewusst, angriffslustig und ironisch, etwa so, wie sich ein Afroamerikaner in den USA ja auch extra als Nigger bezeichnete, um alle zu ärgern. Ich dürfte, erklärte ich, DDR sagen, weil ich die neuen

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