Deutschland 2.0
mehr
als zehn Jahre her.
In Deutschland war die Freiheit jahrhundertelang auf Schleichpfaden unterwegs, sie versteckte sich in Luthers Schriften oder
Heines Gedichten, in Grimms Märchen ebenso wie in Beethovens Symphonien. Für alle sichtbar auf den Barrikaden stand sie selten
– und wenn doch, dann waren die Wrangels, Noskes oder Ulbrichts meistens nicht weit und schlugen Frau Libertas nieder.
Uns Deutschen wurde die Freiheit in der jüngeren Geschichte meist geschenkt – oft nach militärischen Kapitulationen. Die politischen
Hauptstationen der jüngeren deutschen Geschichte sind in auffälliger Weise an Kriege, an Siege und Niederlagen gekoppelt:
Die Proklamation des deutschen Kaisers Wilhelm I. nach der Reichseinigung findet nicht etwa in Berlin, sondern im Spiegelsaal
von Versailles statt – eine öffentliche Demütigung der niedergerungenen Franzosen, die nun auch noch Elsass-Lothringen an
das sich breitmachende Germania abtreten müssen. Nach dem verheerenden Ersten Weltkrieg ist die Etablierung des ersten demokratischen
Staates der deutschen Geschichte im Herbst 1918 zwar auch das Resultat einer Massenrevolte – ebenso aber eine Bedingung der
Alliierten für die Aufnahme von Waffenstillstandsverhandlungen. Und Kaiser Wilhelm II. floh nicht ins holländischeExil, weil die Sozialdemokraten die Herrschaft der Hohenzollern abschaffen wollten.
Der Sozialdemokrat Friedrich Ebert erkannte in einer konstitutionellen Monarchie nach britischem Vorbild sogar gewisse Vorzüge.
Im Rückblick mag ihm die chaotische Geschichte der Weimarer Republik recht geben. Ebert wurde erst 1919 Reichspräsident. Als sein Genosse Philipp Scheidemann spontan am 9. November 1918 von einem Fenster des Reichstags die deutsche Republik ausrief, hat Ebert ihn anschließend böse zusammengefaltet:
»Das entscheidet eine Konstituante!«, also eine verfassunggebende Nationalversammlung. Die Verwandlung des autoritären preußischen
Deutschland in eine parlamentarische Demokratie lag 1918 / 19 politisch in der Luft, ging aber auch auf die Starrsinnigkeit des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson zurück, der
mit dem Kriegsverbrecher Wilhelm II. keinen Frieden schließen wollte.
Auch Freiheitsanlauf Nummer zwei im Deutschland des 20. Jahrhunderts erwuchs aus einer Katastrophe – wieder mit fremder, vormals feindlicher Geburtshilfe. Nach der Kapitulation und
dem totalen Zusammenbruch des Nazi-Regimes 1945 entschlossen sich die Westmächte nach vier Jahren behutsamer Umerziehung,
die Besiegten in die parlamentarische Demokratie zu entlassen. In das Grundgesetz schraubten die Gründungsväter und -mütter
gleich mehrere Sicherungen ein, aus Vorsicht, weil sie dem eigenen Staatsvolk offenbar noch nicht ganz trauten: Der Bundespräsident
bekam die Rolle eines politischen Frühstücksdirektors zugewiesen, nachdem der Reichspräsident vor 1933 noch fast allmächtige
Kompetenzen besessen hatte. Eine Fünfprozenthürde sollte nach den politischen Wirrnissen der zwanziger Jahre mit ihren kleinen
und Kleinstparteien endlich geordnete Verhältnisse im Parlament schaffen.
Um deutsche Sonderwege in Zukunft ein für alle Mal auszuschließen, zementierte Konrad Adenauer die junge Republik mitseiner Westbindung an Freiheit und Demokratie – gegen den erbitterten Widerstand der Opposition. Die militärische und politische
Koppelung an den Westen wirkte quasi als politischer Ersatz für jene bürgerliche Revolution, die in Deutschland nie gelungen
war. Das westliche Nachkriegsdeutschland wurde in Grundgesetz und Westbindung gezwängt wie eine Matrone in ein Korsett. Es
musste passen, und wen es im Hintern zwickte, der hatte gefälligst die Zähne zusammenzubeißen. Und siehe da: Mit der Zeit
passte es sogar.
Dass die – von den Westmächten geschenkte – Bundesrepublik Deutschland sich zum freiheitlichsten Staat entwickeln würde, den
die Deutschen je hatten, war 1949 jedenfalls so wenig absehbar wie die Tatsache, dass die Geschichte der deutschen Teilung
1989 ein so schnelles und vor allem unblutiges Ende fand. Es hätte übrigens auch anders kommen können, denn im Herbst 1989
wurde an die Soldaten der Nationalen Volksarmee scharfe Munition ausgegeben. Ein ostdeutscher Cousin von mir, der damals seinen
Dienst in der NVA verrichten musste, erzählte mir Jahre später von jenen ungewissen Tagen. Eines Nachts, es war kurz vor dem
Mauerfall, rückte seine Einheit von Potsdam
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