Deutschland 2.0
verplempern,
der ihm keine Lebensmöglichkeiten, keine Freiheit gibt. Der junge Mann mit kommunistischem Großeltern hatte diesen Moment
am Schalter des Tränenpalastes herbeigesehnt. Der gläserne Bau vis-à-vis vom Bahnhof Friedrichstraße hat seinen Namen, weil
der Abschied von hier oft ein Lebewohl für immer ist – und nicht nur ein harmloses »Bis dann!«. Viele seiner Freunde sind
schon weg, die Ost-Berliner Boheme aus Regimekritikern und Dissidenten, die nach dem Machtantritt Michail Gorbatschows in
der Sowjetunion auf eine Liberalisierung des realen Sozialismus gehofft hatten, sahen sich nach kurzer Zeit enttäuscht und
desillusioniert. Die Greise im Politbüro, Erich Honecker und Erich Mielke vorneweg, gaben dem frustrierten Staatsvolk keinen
Zentimeter mehr Bewegungsspielraum. Im Gegenteil.
Während im benachbarten Polen die Solidarnosc Schritt für Schritt die politischen Schaltstellen im Land erobert, bis schließlich
im August 1989 mit Tadeusz Mazowiecki zum ersten Mal nach 1945 im sowjetischen Einflussbereich ein unabhängiger, nicht-kommunistischer
Premierminister die Macht übernimmt – die er sich freilich noch für einige Zeit mit dem kommunistischen Präsidenten Jaruzelski
teilen muss –, steht die SE D-Führung seit Jahren auf der Bremse. Bereits im April 1987 hatte Kurt Hager, Chefideologe der SED, in einem Interview mit dem westdeutschen
›Stern‹ über eine rhetorische Bemerkung den Beweis geführt, dass man ihn und seinesgleichen ganz zu Recht Betonkommunisten
schimpfte: Nach Gorbatschows Reformkurs gefragt, antwortete er: »Würden Sie, nebenbei gesagt, wenn Ihr Nachbar seine Wohnung
tapeziert, sich verpflichtet fühlen, Ihre Wohnung ebenfalls neu zu tapezieren?«
Thorsten Schilling will den Tapetenwechsel – und zwar noch in diesem Leben. Die Aussicht, die kommenden Jahre einer Gruppe
starrsinniger Greise ausgeliefert zu sein, provoziert seinenMut. Im Mai 1989 gehört er zu den Organisatoren der Ost-Berliner Wahlboykott-Bewegung: Mit Handzetteln und auf Veranstaltungen
klären die Aktivisten der Opposition darüber auf, wie man dem Staat, der dem Stimmvieh seine Kandidaten auf der Liste der
»Nationalen Front« en bloc offeriert, die Stirn bieten kann. Jeder Name muss einzeln durchgestrichen werden, erst dann gilt
das Votum als Nein-Stimme. Tausende Ost-Berliner folgen dem Aufruf, doch das Ergebnis, das nach dem 7. Mai vom SE D-Organ ›Neues Deutschland‹ offiziell verkündet wird, behauptet wieder eine fast hundertprozentige Zustimmung. Doch diesmal hat die
Opposition unabhängige Befragungen vor den Wahllokalen organisiert und die Auszählung der Stimmen beobachtet. Thorsten Schilling
und seine Freunde aus der Dissidentenszene wissen, dass die staatliche Wahrheit eine große Lüge ist. Die Stimmen der Opposition
wurden schlicht unterschlagen. Dem westdeutschen Fernsehmagazin ›Kennzeichen D‹, das sich auf Berichte über die DD R-Opposition und Menschenrechtsverletzungen in Ostdeutschland spezialisiert hat, gibt er ein Interview. Es fällt ein mutiger, wenn auch
folgenschwerer Satz: »Wenn das ein Wahlbetrug war, dann wird er der Nationalen Front im Nacken sitzen.« Thorsten Schilling
weiß, dass ihn diese Bemerkung vor laufender Kamera für Jahre in den Knast bringen kann. Er geht das Risiko ganz bewusst ein.
»Wir hatten es so satt«, sagt er rückblickend, »ich wollte, dass endlich etwas passiert!«
In seine Ausreise-Akte, die von einer speziellen Abteilung der Staatssicherheit geführt wird, kommt nach der Ausstrahlung
des Interviews nun tatsächlich Bewegung. Weil das Interview von den DD R-Behörden nicht genehmigt war, unter konspirativen Bedingungen geführt und der Film aus dem Land geschmuggelt wurde, erwägen die Offiziere
der Stasi tatsächlich, den Dissidenten wegen Spionage anzuklagen. Doch eine Verurteilung würde mit hoher Wahrscheinlichkeit
Proteste nach sich ziehen. Die Opposition versteckt sich längst nicht mehr, sie trifft sich in Kirchenund Wohnungen, hängt Transparente öffentlich aus, macht mit Hilfe westlicher Radiosender und Fernsehsendungen, die fast überall
in der DDR zu empfangen sind, von sich reden. Sogar die linke ›taz‹ – die vielen Autoren der DD R-Opposition auf ihren Seiten ein Diskussionsforum bietet – liegt in der Ost-Berliner Umweltbibliothek in der Gethsemanekirche am Prenzlauer
Berg aus. Kuriere schmuggeln das Blatt und die Manuskripte regelmäßig von Ost nach
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