Deutschland 2.0
Richtung Berlin aus, die Armeetaschen voller Patronen. Manche schleppten so viel
Munition mit sich herum, dass sie Mühe hatten, auf die Armee-LKWs zu klettern. Nach einer halben Stunde kehrten die Soldaten
um. Der Bürgerkrieg fiel aus.
Dem Begriff der Freiheit wohnt in Deutschland etwas Abgenutztes inne, er erinnert bestenfalls an Plakatkampagnen der CDU/
CSU und an Zigarettenwerbung. Ein tief durchdrungenes Verhältnis zur Freiheit scheinen die Deutschen kaum zu besitzen. Ein
Vorurteil? In den zwanziger Jahren empfanden die Deutschen die neue Freiheit zunehmend als lästig, mit bekanntem Ergebnis.
Nach dem Krieg kam sie im Westen von außen. Das war 1989 anders: Die Ostdeutschen fegten ein bankrottes Regime beiseite,dessen Protagonisten nie auch nur ansatzweise begriffen haben, was individuelle Freiheit bedeutet und warum sie neben Lohn,
Brot und Wohnung zu den Grundbedürfnissen des modernen Menschen zählt. Im Gegenteil: Der Wunsch nach Freiheit war im Kommunismus
stets hochverdächtig. Was das Volk brauchte, wurde von oben verordnet. Im deutschen Kommunismus ging es deshalb zu wie in
einer preußischen Kadettenanstalt. So wesensfremd, wie mitunter behauptet wird, war er uns gar nicht.
Es hat in der deutschen Geschichte immer Freiheitsbewegungen gegeben. Sie wurden fast alle zerschlagen. Thomas Müntzer hielt
die Fahne der geknechteten Bauern hoch; Luther stritt für die Freiheit eines Christenmenschen. 1848 kämpften deutsche Revolutionäre
für Freiheit und Einheit im ganzen Land, später wurde der demokratischen Freiheit mit der Einheitsideologie der Garaus gemacht.
In seiner berühmten Schrift über Napoleon III. philosophiert Karl Marx über das Wesen der Geschichte: »Hegel bemerkt irgendwo,
dass alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zwei Mal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen:
das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.« Hat sich die Freiheitsgeschichte 1989 als Farce wiederholt? Manche Bürgerrechtler
haben das in den neunziger Jahren so empfunden.
Der individuelle Impuls, für die Freiheit auf die Straße zu gehen oder gar nach den Waffen zu greifen, ist in der deutschen
Geschichte eher selten und deshalb von besonderem Interesse. Wer sich nach Freiheit sehnt, weil sie von einem Regime, einem
Despoten oder einer Partei verweigert wird, will Grenzen überwinden, Ketten sprengen. Dafür riskiert er mitunter sogar sein
Leben. »Freiheit oder Tod« lautet die universelle Parole: Das war der Schlachtruf der Kreter gegen die türkischen Besatzer
im Jahre 1889, hundert Jahre zuvor skandierten ihn die Franzosen beim Sturm auf die Bastille. Auch den Polen braucht man diese
Phrase nicht zu erklären, die im 20. Jahrhundert erst gegen die Nazis,anschließend gegen die Sowjets kämpften. Für sie war »Freiheit oder Tod« nicht nur eine Parole, es war vom deutschen Überfall
1939 bis zum Zusammenbruch des kommunistischen Regimes das Lebensmotto vieler Menschen, die als Angehörige der »Heimatarmee«
gegen die Nazis und später als Mitglieder der Solidarnosc gegen den Stalinismus und in den achtziger Jahren gegen das sozialistische
Kriegsrecht kämpften. Ob bei der Nelkenrevolution in Portugal, dem Widerstand in Polen oder heute bei der Opposition im Iran:
Ohne den Löwenmut des Einzelnen kommt Massenprotest nicht zustande. Dieser Mut ist die Voraussetzung für politische Veränderung,
nicht dessen Ergebnis. Doch was muss passieren, damit ein Einzelner sich überwindet und im Kampf gegen eine Diktatur Leib,
Leben, Folter oder Gefängnis riskiert?
Freiheit oder Tod: Das ist eine Ultima Ratio, die in Deutschland eher befremdlich klingt. Der Schlachtruf der DD R-Opposition im Herbst 1989 lautete denn auch »Keine Gewalt«. Von Erich Mühsam, dem Aktivisten der Münchner Räterepublik 1919, gibt es
– gewidmet der deutschen Sozialdemokratie – spöttische Verse über einen deutschen »Revoluzzer, im Zivilstand Lampenputzer«,
der völlig verzweifelt darüber ist, dass Gaslaternen zum Zwecke des Barrikadenbaus abgerissen werden, und sich schließlich
verweigert: »Dann ist er zu Haus geblieben/ Und hat dort ein Buch geschrieben/ Nämlich, wie man revoluzzt/ Und dabei noch
Lampen putzt.« Wenn im Herbst 1989 die eine oder andere Gaslaterne mehr zu Bruch gegangen wäre, würde man sich die DDR heute
vielleicht nicht mehr in erster Linie als etwas verschrobene sozialistische Wärmestube vorstellen,
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