Deutschland 2.0
Stasi-Offizier, was für ein erbärmliches Leben als gewissenloser
Spitzel er eigentlich führt – er liest ein Liebesgedicht von Bertolt Brecht:
Erinnerung an die Marie A.
1
An jenem Tag im blauen Mond September
Still unter einem jungen Pflaumenbaum
Da hielt ich sie, die stille bleiche Liebe
In meinem Arm wie einen holden Traum.
Und über uns im schönen Sommerhimmel
War eine Wolke, die ich lange sah
Sie war sehr weiß und ungeheuer oben
Und als ich aufsah, war sie nimmer da.
2
Seit jenem Tag sind viele, viele Monde
Geschwommen still hinunter und vorbei.
Die Pflaumenbäume sind wohl abgehauen
Und fragst du mich, was mit der Liebe sei?
So sag ich dir: ich kann mich nicht erinnern
Und doch, gewiß, ich weiß schon, was du meinst.
Doch ihr Gesicht, das weiß ich wirklich nimmer
Ich weiß nur mehr: ich küßte es dereinst.
3
Und auch den Kuß, ich hätt ihn längst vergessen
Wenn nicht die Wolke dagewesen wär
Die weiß ich noch und werd ich immer wissen
Sie war sehr weiß und kam von oben her.
Die Pflaumenbäume blühn vielleicht noch immer
Und jene Frau hat jetzt vielleicht das siebte Kind
Doch jene Wolke blühte nur Minuten
Und als ich aufsah, schwand sie schon im Wind.
Die Idee, dass sich ein Stasi-Schinder über die Lektüre eines Liebesgedichts des Kommunisten Bertolt Brecht zurück in einen
ethischen Menschen verwandelt, muss natürlich einen Idealisten wie Biermann begeistern. Bleibt die Frage: Warum wurde sein
Leben eigentlich noch nicht verfilmt? Spannend genug wäre es, denn es war durchdrungen von der Suche nach Freiheit in dem
einst so zerrissenen Land. Doch nach 1945 mussten die Deutschen auch lange warten, bis man ihnen die Weiße Rose, den Widerstand
des 20. Juli oder einen antifaschistischen Helden wie Georg Elser im Kino vorstellte.
In den öffentlichen deutschen Debatten um die DDR und ihre Erblast ging es in den vergangenen zwanzig Jahren merkwürdigerweise
meist nicht um das Hohelied des Mutes, sondern um die Verteidigung des Opportunismus. Günter Grass entdeckte in seinen Romanen
plötzlich die »kommode Diktatur«, in der es sich so schlecht gar nicht leben ließ, und wenn wieder einmal ein Informant der
Stasi enttarnt wurde, konnte der Beschuldigte sichergehen, dass ihn irgendein Westdeutscher mit der Bemerkung »Wer weiß, was
ich getan hätte« schon verteidigen würde. Politiker, denen Verrat und Spitzelei nachgewiesen werden konnten, retteten sich
voller Sündenstolz in die euphemistische Parole »Auch ich habe eine Biografie« – und kamen nicht selten damit durch. Die neue
Freiheit im geeinten Deutschland eröffneteeben auch die Möglichkeit, sich die jüngere Geschichte so in Form zu biegen, wie man wollte. Manche simplen Wahrheiten, die
in den Jahren 1989 / 90 kaum jemand bestritten hätte, wurden später in Watte gepackt und weggeschlossen: Die DDR war 1989 wirtschaftlich bankrott.
Wenn die Bundesrepublik sich einer Vereinigung verschlossen hätte, wäre der ostdeutsche Staat dennoch abgestorben – freilich
ganz anders, als sich Lenin das in seiner 1917 verfassten kommunistischen Utopie über ›Staat und Revolution. Die Lehre des
Marxismus und die Aufgaben des Proletariats in der Revolution‹ vorgestellt hatte. Ob mit oder ohne Wiedervereinigung: Der
Sozialismus auf deutschem Boden hatte keine Zukunft. Die meisten Bürger der DDR wollten endlich so leben wie ihre Landsleute
im Westen. Sie hielten ihren Staat keineswegs für eine sozialistische Wärmestube, in der sich niedliche Ampelmännchen und
das Sandmännchen freundlich gute Nacht sagten, sondern hatten im August 1989 ziemlich große Angst vor einem blutigen Showdown.
Trotz dieses beklemmenden Sommers, in dem der Arbeiter- und Bauernstaat völlig aus den Fugen geriet, ist im Rückblick oft
von der »Nischengesellschaft« die Rede. Dieses Bild scheint heute fast bestimmend zu sein. Natürlich gab es ein richtiges
Leben im falschen Staat. Das würde auch kein Pole bestreiten. Es wurde geliebt, gelacht, geweint, geheiratet, getauft, gestorben,
geboren – wie im Westen auch. Doch während man sich in Polen in fast jeder Familie auch an Jahrzehnte des Widerstands erinnert
– die Solidarnosc mit ihren vor dem Verbot fast zehn Millionen Mitgliedern bildete die größte Selbstorganisation der Arbeiterbewegung
in der ganzen Welt –, gibt es in Deutschland zu solchen gesellschaftlichen Memoiren kein Gegenstück. Diejenigen, die ein
Weitere Kostenlose Bücher