Deutschland 2.0
entsprechendes Selbstbewusstsein,
ein haltbares, relevantes kritisches Potenzial im Osten hätten entwickeln können, wählten in den Jahrzehnten seit 1945 allermeist
den Weg in den Westen. Wer will es ihnen verdenken? Gefehlt haben sie trotzdem – vorallem nach der Wiedervereinigung, als die westlichen Parteien die opportunistischen Blockparteien schluckten, ihre Emissäre
in die neu gegründeten Länder schickten und sich die Ex-SED binnen kurzer Zeit als einzig authentische Interessensvertretung
der Menschen zwischen Kap Arkona und dem Erzgebirge aufspielen konnte. Dieser Nimbus ist bis heute ungebrochen. Deshalb ist
nicht der 9. November 1989 der Fixpunkt der jüngeren deutsch-deutschen Geschichte – sondern sind die Monate zuvor. Im Schlagschatten des
Mauerfalls verschwanden die ganze Verzweiflung und Tristesse, aber auch der Löwenmut, der sich im Sommer 1989 in der DDR ungewöhnlich
breitgemacht hatte. Um dies zu begreifen, lohnt eine Fahrt mit der Zeitmaschine.
Gehen wir also zwanzig Jahre zurück, in den heißen Sommer von 1989, nach Ost-Berlin. Als Thorsten Schilling am Nachmittag
des 7. Juli 1989 die Tür seiner kleinen Wohnung in Berlin – Friedrichshain zuschließt, hat er eine Vision: Leblos. Er ist tot, gleich will er in die Freiheit. Der Moment des Abschieds
raubt ihm den Atem. Eigentlich hat der ehemalige Philosophiestudent mit Esoterik oder Metaphysik nichts am Hut. Und doch:
Da drüben liegt zweifellos sein Körper – und seine Seele verlässt jetzt für immer die Deutsche Demokratische Republik. Der
alte Thorsten Schilling ist gerade gestorben. Der neue Thorsten Schilling geht gleich ins deutsch-deutsche Exil. Der junge
Mann hat einen Wanderrucksack umgeschnallt und bugsiert drei Koffer mit Habseligkeiten zum Grenzübergang Friedrichstraße.
Ein Freund hilft ihm beim Tragen. Dann reiht sich Thorsten Schilling am »Tränenpalast«, der Ausreisehalle beim Grenzübergang
Friedrichstraße, in die Schalterschlange ein. Es ist ein merkwürdiger Tag, von dem er jetzt schon weiß, dass er ihn nie vergessen
wird. Als er nach einem Familienbesuch in Dresden am Morgen in seine Berliner Wohnung zurückkehrt, steckt ein Behördenzettel
im Briefkasten, eine Vorladung der Abteilung für Innere Angelegenheiten des Stadtbezirks Friedrichshain. Dort eröffnet ihm
mittagseine Sachbearbeiterin, dass er die DDR bis 16:00 Uhr verlassen soll. Bis dahin muss er seine Wohnung übergeben und zur ordnungsgemäßen Genehmigung des »Visums für einmalige
Ausreise« noch zwei Passbilder beibringen.
Seit drei Jahren schon hat er versucht, die DDR auf legale Weise zu verlassen. Das System nimmt ihm die Luft zum Atmen. Er
darf nicht laut sagen, was er denkt, nicht lesen, was er möchte, nicht reisen, wohin er will. Wenn er abends weggeht, wird
er im Restaurant platziert, wenn er wählen geht, wird seine Stimme unterschlagen, wenn er im H O-Markt nach exotischen Waren wie Salami fragt, heißt es: Hamwanich. Mit einem Wort: Thorsten Schilling stößt bei der Suche nach
seiner Freiheit und seiner Zukunft nur an Grenzen. Er weiß, dass er sein Glück in der DDR nicht finden wird. Thorsten Schilling
und den sechzehn Millionen DD R-Bürgern klingt am 7. Juli 1989 noch ein Satz in den Ohren, den der 7 6-jährige Staats- und Parteichef Erich Honecker zu Beginn des Jahres in die Welt hinausgerufen hat: »Die Mauer steht noch hundert Jahre!«
Deshalb will Thorsten Schilling schon seit Jahren raus aus der DDR. 1986 hat er zum ersten Mal einen entsprechenden Antrag
ge-stellt – auf Familienzusammenführung. Er will eine West-Berlinerin heiraten. Tatsächlich kennt er die Frau kaum. Sie ist
die Bekannte eines Freundes, gehört zur linken Kreuzberger Szene, hat gerade Abitur gemacht und will Thorsten Schilling mit
der Hochzeit eine möglichst unkomplizierte Ausreise ermöglichen. Doch die Behörden schalten auf stur. Mehr als hunderttausend
Menschen haben in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre jährlich den Mut, offiziell ihre Ausreise aus der DDR zu beantragen.
Meist sind Schikanen am Arbeitsplatz die Folge, die Stasi schaltet sich ein, lässt die Ausreisewilligen bespitzeln oder bedrängen.
Nicht ohne Erfolg: Ein Drittel der Antragsteller knickt nach den »Zersetzungsmaßnahmen« ein und integriert sich wieder in
den tristen DD R-Alltag .
Doch Thorsten Schilling hat einfach keine Lust mehr. Er lebt nur ein Leben, und das will er nicht in einem Staat
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