Deutschland 2.0
kein Italiener, sondern ein Pole zum Papst ernannt worden ist, lässt die Welt
zwar überall aufhorchen, als Vorbote eines Zusammenbruchs des Sowjetimperiums würde das aber niemand interpretieren, auch
wenn in Polen über die letzten Jahre eine Gewerkschaftsbewegung namens Solidarnosc entstanden ist, die sich im Lande immer
breiter macht.
In Deutschland schlägt sich der Bundeskanzler Helmut Schmidt mit dem immer stärker werdenden linken Flügel seiner Partei und
dem Koalitionspartner FDP herum. Vor allem der Nato-Nachrüstungsbeschluss ist im Lande umstritten. In Bremen sitzt zum ersten
Mal eine neue Partei im Landesparlament. Sie nennen sich »Die Grünen«, vermeiden Krawatten und Anzüge, diskutieren stundenlang
auf öffentlichen Sitzungen, kämpfen für den Umweltschutz, die Gleichberechtigung von Mann und Frau und den Frieden in aller
Welt. SPD, FDP und Union treten diesen neuen, mitunter in lila Latzhosen erscheinenden Kollegen mit Skepsis gegenüber. Die
etablierten Parteien sind aber ziemlich sicher, dass dieser »grüne Spuk« schnell wieder vorübergehen wird.
Zwanzig Jahre später, im Oktober 2001, beschließt dieselbe Partei, deutsche Soldaten an den Hindukusch zu schicken. Es ist
nicht der erste Marschbefehl, den die Grünen unterschreiben. Zwei Jahre zuvor hat die Bundeswehr mit ihrer Billigung an einem
Nato-Einsatz gegen Serbien teilgenommen – ein Krieg, mitten in Europa, nach dem Bosnien-Konflikt bereits der zweite binnen
weniger Jahre. Aber das ist nur ein unbedeutendes Detail, wenn man an die anderen Umwälzungen in der deutschen und globalen
Politik denkt. Das Sowjetimperium ist zusammengebrochen, Länder wie Polen und Ungarn üben sich nach Jahrzehnten russischer
Bevormundung in westlicher Demokratie.Deutschland ist wiedervereinigt und wird von einem Kanzler regiert, der diese Wiedervereinigung noch im Sommer 1989 für eine
spinnerte Idee gehalten hat. Das Baltikum ist frei und unabhängig, die Europäische Union, die als Benelux-Staatenbund mit
Frankreich und Deutschland begann, zählt Dutzende Mitglieder und Kandidaten. Die D-Mark hat als Währung ausgedient, der Kontinent hat eine gemeinsame Währung namens Euro.
Das alles erscheint uns heute völlig normal. Die Freiheitsrevolution 1989 und ihr glücklicher Ausgang waren vielleicht der
Höhepunkt des Fortschrittsglaubens und ein Siegeszug für die Demokratie. Die deutsche Einheit war vor zwanzig Jahren möglich,
weil sie in den europäischen Einigungsprozess integriert wurde. Aber die Europäische Union ist kein politischer Selbstläufer.
Man muss kein Pessimist sein wie der amerikanische Politologe George Friedman, Chef des renommierten Stratfor-Instituts in
Atlanta, um zu erkennen, dass Europa in einer tiefen Krise steckt und uns erhebliche Konflikte bevorstehen.
Das fängt beim Euro an und hört bei der Frage auf, wo der Kontinent eigentlich politisch endet. Die wirtschaftskulturellen
Bruchstellen der Euro-Zone sind mit dem Staatsbankrott Griechenlands und vergleichbaren, dräuenden Problemen in Portugal,
Spanien und Italien mehr als deutlich geworden. Was ist die Europäische Union eigentlich? Eine Haftungsgemeinschaft, ein christlich-abendländischer
Werteclub oder nur eine Wirtschaftszone? Als Helmut Kohl und François Mitterrand den Euro erfanden, hatten sie vor allem ein
politisches Ziel im Sinn. Die E U-Länder brauchten eine Klammer, die die Union zusammenhält. Eine Sprache kam nicht in Frage, für eine Zentralregierung in Brüssel
war es viel zu früh, also entschied man sich fürs Geld. Wirtschaftspolitische Sicherheiten standen bei der Geburt des Euro
leider nicht Pate. Das hat sich spätestens im Frühjahr 2010 bitter gerächt.
Zur europäischen Einigung gibt es dennoch keine Alternative. Die unterschiedlichen, sich manchmal widersprechenden Interessen
der Mitgliedsländer der EU haben wir dennoch unterschätzt. Viele Zukunftsfragen sind offen, die EU steckt in der schwersten
Krise seit ihrer Gründung – und neue Konflikte sind am Horizont bereits sichtbar.
Die Frage, wie weit das demokratische Europa eigentlich reichen kann, ist nicht geklärt. Sie tangiert direkt die geostrategischen
Interessen Moskaus. Russland hat sich nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums zu einer Art »Demokratur« entwickelt. Die
brachiale Art, wie der Kreml inzwischen wieder auf Kritik und Opposition reagiert, die Tatsache, dass die Mörder der Journalistin
Anna
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