Deutschland 2.0
Politkowskaja bis heute frei herumlaufen und Presse und Fernsehen sich eher als Putins Phonverstärker begreifen als eine
unabhängige, kritische Kontrollinstanz, lassen leider keine andere Umschreibung zu. Eine streitbare Debattenkultur, wie sie
in den meisten Ländern Europas heute völlig normal ist, gibt es in Russland so gut wie nicht. Natürlich gibt es Wahlen in
Russland. Es gibt sogar unterschiedliche Kandidaten. Aber die Sieger scheinen vorher festzustehen. Das Bäumchen-wechsel-dich-Spiel
zwischen Medwedew und seinem Amtsvorgänger Putin zeigt dies ganz offensichtlich.
Nun könnte man sagen: Was geht uns das an? Wenn die Russen sich aus ihren autoritären Staatsstrukturen nicht befreien können,
soll das die Sorge der Russen sein. Doch es ist leider auch unser Problem, genauso wie die griechische Staatspleite nicht
nur das Problem der Griechen ist. Innenpolitik in Europa hat inzwischen auch immer außenpolitische Auswirkungen – und umgekehrt.
Diese Verzahnung wird noch zunehmen.
Moskau betrachtet seine Nachbarn noch immer als Pufferzone – nicht als Staaten, die über ihr Schicksal ausschließlich selbst
bestimmen sollen. Das betrifft nicht nur ferne Länder wie Georgien, das erst im Jahr 2009 Schauplatz eines blutigen Konfliktsmit Russland wurde. Es geht uns Europäer ganz direkt an. Das Baltikum zum Beispiel gehört zur EU – dort brodeln bereits Konflikte
mit der russischen Minderheit. In Moskau beklagt man noch heute, dass Gorbatschow Estland, Lettland und Litauen Anfang der
Neunziger an den Westen verschenkt habe, als er die drei Länder in die Unabhängigkeit entließ. Viele Russen empfinden die
Tatsache, dass ein Nato-Staat mit seinen Truppen knapp hundert Meilen von St. Petersburg entfernt liegt, als unerträglich.
Der Frieden in dieser Region ist deshalb keineswegs sicher. Und eine solidarische Reaktion der EU auf eine baltischrussische
Krise, mit der Geostrategen wie George Friedman rechnen wie mit dem Amen in der Kirche, ebenso wenig. Seien wir also einen
Moment lang furchtbar pessimistisch und prophezeien wie Friedman den politischen Versuch Moskaus, sich das Baltikum entweder
wieder ganz einzuverleiben oder die Regierungen dort dazu zu drängen, ihre Nato-Mitgliedschaften aufzugeben. Dazu braucht
es nicht einmal unbedingt einen bewaffneten Angriff. Blutige Auseinandersetzungen zwischen russischer Minderheit und baltischen
Mehrheiten in diesen Ländern würden vielleicht schon ausreichen, um die Region in eine Krise zu stürzen.
Ein Szenario: Die russische Minderheit ruft Moskau um Hilfe. Die Armee steht an den Grenzen. Wenn es wirklich zum Konflikt
kommt, würde der Nato-Bündnisfall eintreten. Auch Deutschland wäre dann im Krieg mit Russland. Und auf einmal schlägt Moskau
vor: Tretet doch aus der Nato aus. Dann gibt es keinen Ärger, die Lage wird sich bestimmt beruhigen. Der Kalte Krieg, den
wir 1990 zu Grabe getragen haben, ist gar nicht tot, er döst bloß ein bisschen.
Was würde passieren? Und vor allem: Wie würde der Rest Europas reagieren? Dieser imaginäre Konflikt würde der Europäischen
Union politisch womöglich den Rest geben. Länder wie Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei würden sich mitaller Macht und aus eigenem Interesse gegen den Versuch Moskaus stemmen, die russische Hemisphäre wieder auszuweiten. Die
Regierung in Warschau würde wegen der Größe Polens an der Spitze dieser antirussischen Allianz stehen, die jüngste Annäherung
beider Länder nach dem tragischen Flugzeugabsturz in Smolensk, bei dem der polnische Präsident Kaczynski, seine Frau sowie
die halbe konservative polnische Elite ums Leben kamen, wäre sicher schnell vergessen. Die alten Konflikte lägen alle wieder
auf dem Tisch – und die alten Marschbefehle auch. Und natürlich wären auch die USA involviert, die der polnischen Allianz,
wie Friedman dieses Bündnis in einer Zukunftsprojektion genannt hat, tatkräftig zur Seite stehen würden.
Aber Deutschland? Und Frankreich? Die Begeisterung über eine Neuauflage des Kalten Krieges, der sogar ganz schnell sehr heiß
werden könnte, wäre in West- und Mitteleuropa sicher nicht sehr groß. Schon gar nicht in Ländern, die auf russisches Gas angewiesen
sind »wie Fixer auf ihren Heroindealer« (Friedman). Die Reden im Bundestag, in denen emphatisch über russische Interessen
nachgedacht und ein Moratorium der Nato-Mitgliedschaften der baltischen Staaten ins Spiel gebracht wird,
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