Deutschland 2.0
alles schlecht, vieles war sogar sehr gut« aufgelegt wird, desto stärker wird die These mitgesummt im neuen Deutschland.
Dieser Geschichtsklitterung hat sich allerdings eine mächtige Institution in den Weg gestellt: die sogenannte Birthler-Behörde.
Seit man seine Stasi-Unterlagen einsehen kann, haben mehr als 1,6 Millionen Bundesbürger von diesem Recht Gebrauch gemacht und ihre Akten studiert. Auch zwanzig Jahre nach dem Mauerfall ist
das Interesse an der Aufklärung der Stasi-Machenschaften ungebrochen. Zwar wird vor allem von Seiten der Linken und teilweise
leider auch von manchen Sozialdemokraten und Konservativen behauptet, der Stasi-Komplex sei heute politisch nicht mehr relevant,
das Thema könne außerdem niemand mehr hören. Doch hinter dieser These stecken gegenwärtige politischeInteressen – je intensiver sich SPD und Linke beispielsweise mit der kommunistischen Zwangsvereinigung von KPD und SPD zur
SED oder mit der Verfolgung von Sozialdemokraten in der DDR befassen würden, desto merkwürdiger müsste ihnen heute ihre Koalition
in Berlin vorkommen.
Während der Blick zurück also oft genug weniger auf die historischen Fakten als vielmehr auf opportune Interessen der Gegenwart
gerichtet ist, lässt sich über die Bereitschaft in Deutschland, die Zukunft ins Visier zu nehmen, leider auch kaum Ermunterndes
vermelden. Natürlich ist das auch viel schwieriger, denn schon Mark Twain warnte: »Voraussagen sollte man unbedingt vermeiden,
besonders solche über die Zukunft!« Trotz aller demoskopischen Instrumente haben beispielsweise die Wahlforscher in Deutschland
so gut wie keine Bundestagswahl der vergangenen zwanzig Jahre korrekt prognostiziert. Anfang der Neunziger glaubte man an
einen Siegeszug der SPD, stattdessen folgten weitere acht Jahre Helmut Kohl. Statt der sicher geglaubten Großen Koalition
reichte es 1998 wider Erwarten für Rot-Grün, und 2005 kam es keineswegs zum triumphalen Sieg von Union und FDP – sondern zu
einer Koalition von CDU/CSU und Sozialdemokraten. 2009 lagen die Meinungsforscher zwar weitgehend richtig: Das Land wird,
wie vorhergesehen, von Union und FDP regiert. Dass diese Regierung aber einen so kolossalen Fehlstart hinlegen würde und sich
vor allem die CSU mit den Liberalen fast täglich in der Wolle liegt, hätte man kaum für möglich gehalten. Ob diese Regierung
bis zum Ende durchhält, ihr gar eine zweite Amtszeit beschert werden könnte, kann man jedenfalls bezweifeln. Aber auch diese
Aussage wird aus dem Moment heraus getroffen. Die erste Regierung Kohl hatte 1982 / 83 ebenfalls einen schwierigen Start. Dann regierte der Pfälzer sechzehn Jahre.
Wenn sich dieses Kapitel nun also mit Einsichten und Aussichten – also auch mit Zukunftsprognosen – beschäftigt, dannnatürlich mit der Einschränkung, dass nichts felsenfest geschrieben steht. Es gibt keine Kristallkugel. Geschichte, das wusste
schon Friedrich Engels, entsteht »stets aus den Konflikten vieler Einzelwillen«, wovon »jeder wieder durch eine Fülle besonderer
Lebensbedingungen zu dem gemacht wird, was er ist. Es sind also unzählige, einander durchkreuzende Kräfte. Eine unendliche
Gruppe von Kräfteparallelogrammen, daraus eine Resultante, das geschichtliche Ergebnis hervorgeht. Die selbst wieder als das
Produkt einer als Ganzes bewusstlosen und willenlosen Macht angesehen werden kann. Denn was jeder Einzelne will, wird von
jedem anderen verhindert, und was herauskommt, ist etwas, was keiner gewollt hat.« Etwas weniger intellektuell ausgedrückt:
Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt.
Als Bürger lebt man natürlich vor allem in der Gegenwart. Diese hat den Vorteil, dass sie einem vertraut ist. Über der Gegenwart
liegt die vermeintliche Gewissheit, dass es schon irgendwie weitergehen wird. Man glaubt zu kennen, was einen umgibt.
Gesellschaftliche Umbrüche und politische Veränderungen markieren selten einen einzigen Tag – wie etwa den Mauerfall oder
den Terrorangriff auf das World Trade Center. Um zu begreifen, wie stark sich die Republik in den nächsten Jahrzehnten verändern
wird und wie überraschend manche dieser Entwicklungen sein könnten, hilft tatsächlich zunächst einmal ein Blick zurück. Springen
wir also in Zwanzigjahresabständen durchs vergangene Jahrhundert.
Im Januar 1901 residiert der deutsche Kaiser Wilhelm II. im Berliner Stadtschloss. Gerade ist seine Großmutter gestorben –
die
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