Deutschland 2.0
entfernt. Seien wir ehrlich: Diese gleichen Lebensverhältnisse können gar nicht eintreten. Ein Oberbayer führt
ein anderes Leben als ein Bewohner des Ruhrgebiets, schließlich können wir die Alpen nicht verschieben. Ein Bürger Stralsunds
hat andere Aussichten vor der Haustür als ein Leipziger oder Dresdner. Diese Vielfalt von Lebenswelten macht schließlich den
Charakter der Bundesrepublik aus. Wir sind ein föderaler Staatenbund, die Väter und Mütter des Grundgesetzes wollten die unterschiedlichen
Erfahrungen der Länder unbedingt in den politischen Prozess einspeisen. Genau deshalb sitzt das kleine Bremen neben dem großen
Bayern im Bundesrat.
Es geht also nicht um gleiche Lebenswelten, sondern um Chancengleichheit, um das gleiche Recht auf Freiheit, gesundheitliche
Betreuung und, wenn nötig, auf das gleiche Recht auf staatliche Fürsorge. Die Sicherung dieser Rechte wird die Aufgabe von
Politikund Gesellschaft in den nächsten Jahrzehnten sein. Die gute Nachricht ist: Der Ost-West-Konflikt wird in diesem Zusammenhang
eine eher geringe Rolle spielen. Die schlechte Nachricht: Von allein werden sich diese Rechte nicht auf die nächsten Generationen
vererben. Sie sind in Gefahr. Wir tun nicht genug, um sie zu sichern. Wie wir in zwanzig, dreißig Jahren leben werden, entscheidet
sich schon heute. Die Politik allein wird diese Aufgabe nicht stemmen können. Um die Zukunft der Bundesrepublik zu meistern,
brauchen wir einen Bürgeraufstand, der in seiner politischen Leidenschaft jener ostdeutschen Revolte von 1989 in nichts nachstehen
sollte.
Einsichten, Aussichten
Die Deutschen beschäftigen sich gern und oft mit ihrer Vergangenheit. In diesem teutonischen Geschichtsboom kommt es meist
nicht so sehr darauf an, etwas Neues zu berichten, als vielmehr das bereits Bekannte mit immer bunteren Bildern oder grelleren
Thesen zu erzählen und gegebenenfalls auch zu revidieren. Da flimmert der Zweite Weltkrieg in Farbe über die Mattscheibe,
Martin Luther wird zum Spielfilmhelden, der Ansturm der Germanen auf den römischen Limes zur neuen Stunde null der Deutschen
stilisiert. Magazintitel mit Hitler auf dem Cover plus beigelegter Führerbunker-DVD gelten auch in der Ära der Printmedienkrise
noch immer als sichere Auflagenbringer. Wir schauen oft und gern zurück, unsere Vergangenheit macht uns eben keiner nach.
Hierzulande sind etwa 3000 wissenschaftliche Einrichtungen damit befasst, die Vergangenheit aufzuklären. Nur etwa ein halbes
Dutzend Institute beschäftigt sich dagegen mit wissenschaftlicher Zukunftsforschung, dazu kommen ein paar Stiftungen, die
Trends nachjagen. Dieser inflationäre Umgang mit der Geschichte ist freilich nicht nur ein deutsches Phänomen. Hier versucht
ein amerikanischer Historiker die Geschichte des Zweiten Weltkriegs umzuschreiben, indem er Winston Churchill und Theodor
Roosevelt unterstellt, sie hätten auf Hitlers Polenfeldzug nur gewartet, um dann selbst ordentlich loszuprügeln, da erklärt
ein britischer Literaturwissenschaftler Franz Kafka posthum zum Pornografen, weil der seinerzeit ein expressionistisches Magazin
mit Aktzeichnungen abboniert hatte. Der Popsänger Elton John bringt sich mit der These ins Gespräch, Jesus sei vermutlichschwul gewesen, weil er ständig zwölf junge Männer um sich scharte. Und so weiter.
Bei dieser fröhlichen Treibjagd auf historische Pointen hat sich vor drei Jahrzehnten besonders der ›stern‹ hervorgetan: Das
Blatt veröffentlichte damals die – gefälschten – Tagebücher Adolf Hitlers. Weite Teile der deutschen Geschichte müssten umgeschrieben
werden, tönten die Chefredakteure, bevor der millionenschwere Betrug aufflog. Umgeschrieben werden musste anschließend freilich
nur das Impressum der Hamburger Illustrierten. Diese Beispiele zeigen jedenfalls, dass die Geschichtsschreibung Gefahr läuft,
von der Unterhaltungsmaschine plattgewalzt zu werden. Natürlich spielen auch politische Interessen eine Rolle. So ist die
Geschichte der 68er-Revolte in Deutschland meist von ehemaligen 68ern erzählt worden. Was die Geschichte der DDR betrifft,
lief es nicht ganz so absurd, aber ähnlich. Ausgerechnet das ehemalige SE D-Mitglied Gregor Gysi, heute Führungsfigur der »Linken«, oder die Betonkommunistin Sahra Wagenknecht sind im Fernsehen gern gesehene
Gäste, wenn es darum geht, Vergangenheit und Gegenwart Ostdeutschlands auszuleuchten. Und je öfter dann die Platte »Es war
nicht
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