Deutschland 2.0
kann man sich heute
schon vorstellen. Gemein? Die Zahl jener Außenpolitiker, die Deutschland eher als Mittler zwischen den großen Mächten denn
als Teil einer westlichen Phalanx oder einer vom amerikanischen Politik-Vordenker Robert Kagan in die Debatte geworfenen »League
of Democracies« definieren wollen, hat in den vergangenen Jahren nicht ab-, sondern zugenommen. Übrigens nicht nur in der
Linken und der SPD – Stimmen, die künftig lieber auf Äquidistanz gegenüber Washington und Moskau setzen wollen, findet man
inzwischen in jeder deutschen Partei.
Wie die Bundesrepublik sich im Falle eines neuen Kalten Krieges verhalten würde, ist unmöglich vorherzusagen. Wahrscheinlich
ist aber, dass die ganze Europäische Union in einer entscheidenden geostrategischen Frage gespalten wäre. Kissingers ebensowahre wie abfällige Bemerkung, dass Europa eben nicht nur eine Telefonnummer habe, wäre einmal mehr unter Beweis gestellt.
Diese Disutopie wird hoffentlich niemals eintreten, sie könnte es aber. In Staaten wie der Ukraine, Kirgisien, Georgien oder
Weißrussland sind solche bitteren Prognosen kein düsteres Zukunftsgeklingel, sondern in ähnlicher Form teilweise schon heute
Realität. Die Ukraine ist trotz ihrer »orangenen Revolution« inzwischen wieder näher an Russland gerückt, die Konflikte im
Land schwelen weiter. Die Revolte gegen die korrupte Machtelite in Kirgisien im April 2010 wurde von vielen westlichen Medien
zwar als Volksaufstand gedeutet – wenn aber eine Regierung innerhalb von 24 Stunden ausgewechselt wird, deutet das eher auf eine länger vorbereitete Volte hin als auf spontane Rebellion. Die neuen Machthaber
haben sofort ihre Loyalität gegenüber Moskau erklärt. Am Ende kann man im Kreml mit den jüngsten Entwicklungen in Kiew und
in Bischkek also ganz zufrieden sein, nachdem man schon den Georgiern im Sommer 2009 mit Panzern und Granaten klargemacht
hat, wer Herr in der Region ist. Von einem Nato-Beitritt dieses Landes redet jedenfalls heute kein Mensch mehr.
Natürlich sind Zukunftsentwürfe wie der eben skizzierte neue Kalte Krieg sehr angreifbar. Auch ich will mich von dem Gedanken
nicht verabschieden, dass es neben mächtigen geostrategischen Interessen und historisch gewachsenen Konflikten in der Politik
noch eine andere Macht gibt: nämlich die Vernunft. Auf der anderen Seite konnten wir uns auf diesen Faktor in den vergangenen
100 Jahren in der Welt nicht besonders verlassen – und in Europa schon gar nicht.
Kehren wir nach diesem unerfreulichen Sichtflug Richtung Nordost zurück nach Deutschland: Dass zwanzig Jahre nach dem Mauerfall
und sechzig Jahre nach Gründung der Republik eine geschiedene ostdeutsche Protestantin, die ihre Jugend in der FDJverbracht hatte, nicht nur Bundeskanzlerin, sondern auch noch Vorsitzende der Christlich Demokratischen Union sein würde,
ist eine politische Sensation. Für die Zukunft lässt dieser Vorgang auf interessante Entwicklungen schließen. Angela Merkel
ist in gewisser Weise die weibliche Gegenthese zum katholischen Patriarchen Konrad Adenauer, der die Republik und die Union
in ihren Anfängen entscheidend geprägt hat. Rechnet man diese politische Personalie hoch, kann man sich im Ergebnis für die
nächsten zwanzig bis sechzig Jahre Bundesrepublik viel vorstellen: einen türkischstämmigen Bundeskanzler, eine bekennende
lesbische CS U-Chefin , einen grünen Bundeswehrgeneral. Völlig undenkbar? Das hätte Adenauer wohl auch gesagt, wenn er in den fünfziger Jahren in
einer Kristallkugel das Antlitz von Angela Merkel erblickt hätte. Und was kommt jetzt?
Fangen wir in der Politik an. Das Zeitalter der großen Volksparteien geht zu Ende. In den ersten dreißig Jahren wurde das
Land von der Union oder der SPD dominiert, die FDP gab bei Bedarf den Mehrheitsmacher, die Große Koalition von 1966 bis 1969
trug ihren Namen noch zu Recht. Die 1980 gegründeten Grünen, die man zu Beginn noch für eine vorübergehende Zeitgeist-Erscheinung
hielt, sind heute aus der Parteienlandschaft nicht mehr wegzudenken. Aus dem rot-grünen Lager sind sie inzwischen ausgebrochen,
im Saarland und in Hamburg koalieren sie mit der CDU – und das werden nicht die letzten schwarz-grünen Bündnisse sein. Auch
die Linke hat sich fest etabliert, wenn sie im Westen und im Bund auch noch weit von der Regierungsfähigkeit entfernt ist.
Die FDP hat sich im Bundestagswahlkampf 2009 auf 14,6 Prozent
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