Deutschland 2.0
schnitzt. Dieser demokratische Zwang zur politischen Balance
hat nicht nur positive Folgen. Früher haben die großen Parteien Themen gesetzt – und politische Beschlüsse zum Teil gegen
erheblichen Widerstand durchgesetzt. Willy Brandts Ostpolitik wurde mit knapper Mehrheit im Bundestag beschlossen und hätte
ihn fast die Kanzlerschaft gekostet. Er hat die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze ebenso durchgesetzt wie ein Dutzend Jahre
später erst Helmut Schmidt und dann Helmut Kohl den Nato-Doppelbeschluss und die neue Stationierung amerikanischer Raketen
in der Bundesrepublik. Beide Entscheidungen waren wichtige – und richtige – Wegmarken der Republik. Hätten Brandt oder Schmidt
und Kohl Stimmungen und Demonstrationen nachgegeben, wäre unsere jüngere Geschichte nicht so glücklich verlaufen.
Heutzutage setzen die Parteien und ihre Protagonisten keine Themen mehr, sie laufen ihnen oft genug hinterher und blicken
angsterfüllt auf Umfragen. Der Afghanistan-Einsatz, der in der Realität von Anbeginn auch ein Kriegseinsatz war, wurde vom
deutschen Parlament 2001 zwar erstmals beschlossen. Das Thema wurde aber weiträumig umfahren. Es dauerte beispielsweise Jahre,
bis Angela Merkel zu ihrem ersten Truppenbesuch am Hindukusch aufbrach, denn der Bundeswehreinsatz in Afghanistan, der zunehmend
auch tote deutsche Soldaten fordert, gilt in der Politik als »toxisches Thema«, als unpopulär und kompliziert.
Die Passivität der Politik bei diesem Thema hat letztlich auch dazu geführt, dass eine überwältigende Mehrheit der Deutschenden – meiner festen Überzeugung nach aus sicherheitspolitischen Gründen notwendigen – Einsatz ablehnt und die Linke ihn politisch
instrumentalisiert. Es ist ein gutes Beispiel dafür, was passieren kann, wenn Politiker ihre eigene Politik nicht selbstbewusst
und offensiv vertreten. Das wird vom Wähler sofort bestraft.
Wenn aber die Berliner Republik immer mehr auf »Politik-Management« setzt und Regierungschefs zu Mediatoren werden – wer wird
dann die Themen setzen?
Zum einen Populisten. Oskar Lafontaine hat mit seiner schieren Präsenz im Bundestag den staatsgläubigen Zeitgeist der Republik
nach links verschoben. Selbst in der CSU blickte man nervös nach Berlin, was der Saarländer als Nächstes aus dem Hut zaubern
würde. Regiert hat übrigens Frau Merkel. Aber Lafontaine war mit seinen Attacken auf den Kapitalismus, die Bankwirtschaft
und die Sozial- und Arbeitsgesetzgebung in Deutschland der eindeutige Stichwortgeber. Auf der anderen Seite versprach im Wahlkampf
2009 Guido Westerwelle den steuergeplagten Mittelständlern das Blaue vom Himmel. Diese haben das Märchen von sofortigen Steuersenkungen
gerne geglaubt. Es wurde damals in den Kommentarspalten oft beklagt, der Bundestagswahlkampf 2009 habe kein eindeutiges Thema
gehabt. Auf den ersten Blick stimmt das. Doch wenn man genauer hinhörte und hinsah, ging es immer nur um das eine: Geld. Westerwelle
versprach mehr Netto vom Brutto. Lafontaine versprach das Gegenteil – höhere Steuern, um seine Klientel besser alimentieren
zu können.
Die großen Parteien, die bereits im vergangenen Jahr wussten, dass man all das gar nicht finanzieren kann, und diese Wahrheit
auch einräumten, fuhren die schlechtesten Ergebnisse ihrer Geschichte ein. Nur die Grünen schwebten jenseits des schnöden
Mammons und schnitten auch gut ab. Diese Erfahrungen werden dazu führen, dass künftige Wahlkämpfe von den kleinenParteien noch lauter, von den großen noch vager geführt werden. Denn am Ende ist der Ehrliche ja der Dumme – und zwar, weil
die Wähler es so wollen.
Viele Themen, an denen sich die Politik abarbeiten wird, werden vom Fernsehen gesetzt werden. Schon heute spielt dies in der
politischen Willensbildung eine unglaublich wichtige Rolle. Kandidaten duellieren sich mit Wortgefechten vor laufender Kamera,
und die Art, wie etwas gesagt wird, ist manchmal wichtiger als das, was eigentlich gesagt wird. Stoibers mühsames Ringen nach
Worten im Live-Streit mit Gerhard Schröder hat ihn 2002 möglicherweise das Kanzleramt gekostet.
Die Auftritte von Politikern in Talkshows werden inzwischen auf fast allen wichtigen Onlinenews-Portalen wenige Stunden später
rezensiert und liefern die Vorlage für den Schwatz zwischendurch im Büro. Über wichtige Bundestagsdebatten lässt sich leider
nicht dasselbe sagen. So verlagert sich der demokratische Meinungsstreit immer
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