Deutschland 2.0
Abwanderung und Geburtenrückgang
weiter schrumpfen und im Vergleich zum Westen im Durchschnitt noch schneller altern, als das ohnehin der Fall sein wird. Allein
in Sachsen, so haben Demografen ausgerechnet, wird man in zwanzig Jahren ein Bevölkerungsminus von fast 700 000 Menschen verzeichnen.
Insbesondere Bayern und Baden-Württemberg werden von der Binnenwanderung profitieren. In Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt,
Brandenburg und Sachsen werden wirschon heute mit einem Paradoxon konfrontiert: hohe Arbeitslosigkeit bei gleichzeitigem Facharbeitermangel. Denn während qualifizierte
Arbeiter abwandern, bleiben weniger qualifizierte in Stralsund, Cottbus oder Chemnitz sitzen. Wer in diesen Städten Abitur
macht, von dem sieht man nur noch eine Staubwolke Richtung Südwestdeutschland. Kann man das ändern? Nein. Man kann den Trend
nur verlangsamen. Strukturschwache Regionen in Bayern, die heute ein Landärzteproblem haben, bieten Medizinstudenten zum Beispiel
ein Unterstützungsprogramm während ihrer Studienzeit an. Für die finanzielle Hilfe im Studium muss sich der frisch gebackene
Arzt dann verpflichten, nach seinem Examen dort zu arbeiten, wo ihn die Kreisverwaltung hinstellt. Ein fairer Deal, von dem
beide Seiten etwas haben. Solche Modelle kann man sich auch für andere Branchen und natürlich auch im Osten Deutschlands vorstellen.
Allerdings kosten sie – wieder einmal – Geld. In diesen Fällen wäre es aber gut angelegt.
Viel wichtiger als der Ost-West-Komplex aber wird das Thema der Integration. Die damit verbundenen Chancen und Probleme stellen
meiner Ansicht nach die größten Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte dar.
Der Bevölkerungsanteil von Einwandererfamilien wird erheblich steigen und damit auch die Zahl der Muslime in Deutschland.
Entscheidende Fragen kommen auf uns zu: Zu wem gehören die Einwanderer in Deutschland? Wo liegen ihre politischen Loyalitäten?
Wie provoziert man ihren Einstiegs- und Aufstiegswillen? Und nicht zuletzt: Wer gewinnt den Kampf um ihre Herzen? Welche Konsequenzen
aus dieser Diskussion gezogen werden, entscheidet nicht nur über die nächsten zwanzig Jahre, sondern über die Zukunft dieser
Republik.
Deutschland bildet inzwischen das wichtigste Einwanderungsland in Europa. Seit Jahrzehnten kommen mehr Zuwanderer ins Land,
als Neugeburten zu verzeichnen sind. Der Anteilder ausländischen Bevölkerung beträgt heute fast sieben Millionen Menschen, also etwa neun Prozent der Gesamtbevölkerung.
Er wird bis 2050 auf bis zu etwa neunzehn Millionen Menschen ansteigen, das sind dann fast 28 Prozent. Eine vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im Frühjahr 2010 veröffentlichte Tiefenstudie zeigt, dass sich das
Gros dieser Menschen deutlich besser an das Leben in Deutschland anpassen wird, als uns manche Schwarzmaler einreden wollen.
So beherrschen die meisten Migranten die deutsche Sprache so gut, »dass sie das alltägliche Leben in Deutschland weitgehend
problemlos bewältigen können«. Die Mehrheit dieser Menschen pflegt regelmäßige Kontakte zu Deutschen und empfindet eine engere
Bindung an die Bundesrepublik als an ihr Herkunftsland. Mit Polen, Griechen, Italienern und – mit einigen Abstrichen – auch
mit den Einwanderern aus dem früheren Jugoslawien »klappt das Zusammenleben in Deutschland in aller Regel reibungslos«, analysierte
die ›Welt am Sonntag‹ im April 2010, die der Studie im Gegensatz zu allen anderen Zeitungen in Deutschland einen breiten Platz
in der Berichterstattung einräumte. Etwas besorgt fragten die Autoren allerdings: »Was ist eigentlich mit den Türken los?«
Denn türkische Einwanderer, die mit Abstand größte Migrantengruppe, bringen eine besonders schlechte Schulbildung nach Deutschland
mit. Während fast zwei Drittel der hier lebenden Polen eine mittlere oder hohe Schulbildung besitzen, bilden die Türken mit
nur einem Viertel leider das Schlusslicht. Gleichzeitig sind vor allem die Türkinnen unter den Analphabeten mit etwa sieben
Prozent stark überrepräsentiert.
Dieses Bildungsgefälle hat natürlich erhebliche Auswirkungen auf die Chancen am Arbeitsmarkt. In einer entwickelten Industrie-
und Dienstleistungsgesellschaft wie der Bundesrepublik ist Fachqualifikation die entscheidende Chiffre. Mehr als fünfzehn
Prozent der Türken, aber nur 7,6 Prozent der in der Bundesrepublik lebenden Griechen leben von Hartz IV. Vergleichsweise
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