Deutschland 2.0
stärker vom legitimen Ort – nämlich dem Parlament
– in die digitalen Quasselbuden des neuen Deutschland. Das kann man bedauern, zu ändern ist es vermutlich nicht mehr.
Am Fernsehen kommt die Politik längst nicht mehr vorbei, dabei wird es aber nicht bleiben. Es ist nur eine Frage der Zeit,
bis Fernsehen, kombiniert mit Internet, eigene politische Figuren hervorbringen wird. »Der neue Typus des Weltverbesserers
lauert irgendwo zwischen Jauch und Kerner«, glaubt zum Beispiel der Göttinger Politologe Franz Walter, der im Herbst 2007
für ›Spiegel Online‹ untersuchte, wer den Grünen künftig Konkurrenz machen könnte. Sein überraschendes Ergebnis: nicht die
Union, SPD oder die Linke – sondern das Fernsehen.
In Frankreich und Island, so hatte er beobachtet, regieren bestimmte Moderatoren mit Hilfe von Fernsehauftritten und Internetblogs
längst in die Politik hinein. Manche, wie der französischeFernsehjournalist Nicolas Hulot, geben zeitweilig sogar die politische Agenda vor. Sein Renommee nutzte er, um als Eisbrecher
für die Ökologie in der französischen Politik zu agieren. Den von Hulot entworfenen »Pacte écologique« hatten im Internet
nahezu eine Million Franzosen unterzeichnet, darunter während des Wahlkampfes auch Nicolas Sarkozy, der als dann gewählter
Präsident Ende Oktober in einem Entwurf für ein grünes Frankreich »viel von dem aufnahm, was Hulot zuvor auf die Agenda gesetzt
hatte«, so Walter.
Eine ähnliche Aufmerksamkeit hatte in Island zuvor der Journalist Ómar Ragnarsson erreicht, der für den Erhalt der empfindlichen
Ökosysteme der Insel warb und die Verhinderung des Kárahnjúkar-Staudamms betrieb. Parallel dazu hatte der außerordentlich
beliebte Kinderbuchautor Andri Snær Magnason, ebenfalls mit Hilfe des Internets, ein auf das gleiche Ziel gerichtetes Memorandum
unter dem Titel »Grau oder Grün« verbreitet, das – trotz des Vetos einiger mächtiger Parteizentralen – dennoch die Unterschriften
etlicher Parlamentarier bekam. »Die politischen Kräfteverhältnisse Islands waren durch diese Aktionen ein Stück weit neu konfiguriert
worden«, bilanziert Walter diesen neuen Politikansatz. Auch in Tschechien fand der Politologe Beispiele für seine These.
Dass der Mix aus Fernsehprominenz und Weblog-Kampagne Massen mobilisieren und gar einen Medientycoon zittern lassen kann,
zeigte auch das Beispiel des italienischen Schauspielers und Komikers Giuseppe Grillo, der – oft als Michael Moore Genuas
bezeichnet – im Gestus des modernen Bürgerrechtlers mit Hilfe eines enorm erfolgreichen Blogs Zehntausende gegen Silvio Berlusconi
auf die Straße zu bringen vermochte. Es geht also nicht nur um Konkurrenz für die Grünen, die sich Sorgen um Öko-Charismatiker
machen müssen, die ihre Fernseh- und Internetpräsenz für politische Kampagnen nutzen könnten. Diese Kombination könnte auf
allen Themenfeldern wirken – vorausgesetzt,es steckt ein bekanntes Gesicht dahinter. Und es muss natürlich auch nicht immer um edle Ziele wie Ökologie gehen. Franz Schönhuber,
der in den achtziger Jahren die rechtsradikalen Republikaner gründete und seine Kameraden in die Landtage von Baden-Württemberg
und Berlin führte, war auch deshalb so erfolgreich, weil er vor seiner Entscheidung, in die Politik zu gehen, reichlich Erfahrungen
als Fernsehmoderator des Bayrischen Rundfunks gemacht hatte.
Wir wollen das Fernsehen hier aber nicht dämonisieren. Es spielt in vielen Bereichen eine sehr konstruktive gesellschaftliche
Rolle. Neben der Nachrichtenversorgung durch die öffentlich-rechtlichen Sender hat sich beispielsweise RTL zu einer regelrechten
Anstalt für Lebenshilfe entwickelt. Das Fernsehen übernimmt mit Sendungen wie ›Vermisst‹, ›Raus aus den Schulden‹ oder ›Die
Super Nanny‹ immer mehr klassische, karitative Aufgaben, die einst eher bei der Kirche oder bei sozialen Institutionen lagen:
Familienzusammenführung, Erziehungshilfe, praktische Lebenstipps. Dieser Trend wird sich fortsetzen, zumal gerade die katholische
Kirche ihre Bindekraft durch die Skandalwelle der letzten Zeit erheblich verloren hat. Die Leute werden weiter aus der Kirche
austreten und den Fernseher einschalten.
In vielen gesellschaftlichen Bereichen wird sich die Bundesrepublik in den nächsten Jahrzehnten rasant verändern. Die Divergenz
von Ost und West bleibt uns als Thema erhalten. Die Bevölkerung in Ostdeutschland wird durch
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