Deutschland misshandelt seine Kinder (German Edition)
Trick schien zu funktionieren: Am Telefon war der Personalchef und befragte ihn in jovialem Plauderton nach seinen »Potenzialen, Visionen und Entwicklungszielen«.
Hendrik gab sich alle Mühe, gleichfalls locker zu wirken. Er spürte schon, wie angetan sein Gesprächspartner war, da begann nebenan Konstantin zu schreien.
Hendrik sprach lauter und schneller. Schlaf wieder ein!, beschwor er den Kleinen, aber Konstantin legte gleichfalls noch ein paar Dezibel zu. Hendrik verhaspelte sich, und der Personalchef schien nun gleichfalls irritiert.
»Ist das bei Ihnen, Herr Petzold«, fragte er, »dieses nervtötende Geplärr?«
Hendrik verneinte und hasste sich dafür. Konstantin schrie jetzt ohrenbetäubend, und Hendrik hasste ihn noch mehr.
»Entschuldigen Sie, ich bin gleich wieder da«, stotterte er und rannte ins Nebenzimmer, wo Konstantin aus Leibeskräften schrie. Das Telefon hatte er nebenan zurückgelassen und sogar ein Sofakissen daraufgelegt, um das »nervtötende Geplärr« zu dämpfen. Er nahm den Kleinen auf und wiegte ihn in seinen Armen.
»Sei still«, zischte er Konstantin zu. »Sei um Himmels willen still!«
Das Baby schrie einfach weiter, den kleinen Mund weit aufgerissen, das ganze Köpfchen feuerrot. Aber länger durfte er den Personalchef nicht warten lassen!
»Sei still! Hörst du nicht?«, schrie Hendrik. Er packte das Baby um den Oberkörper und schüttelte es, bis Konstantin tatsächlich abrupt verstummte. »Na, Gott sei Dank!«, stieß er hervor, legte den Jungen wieder in seine Wiege und rannte zurück zum Telefon.
Konstantin hatte sich irgendwie schlapp angefühlt, als wäre ihm die Luft herausgelassen worden. Hendrik schnappte sich das Telefon, und dann blieb vor Enttäuschung auch ihm die Luft weg.
Der Personalchef hatte aufgelegt. Und Hendrik hatte auf einmal ein ganz mieses Gefühl.
Er rannte wieder ins Nebenzimmer. Konstantin lag auf dem Rücken, wie er ihn eben hingelegt hatte. Seine Augen reagierten nicht, als Hendrik sich über ihn beugte. Er atmete, aber seltsam flach und unregelmäßig.
Hendrik getraute sich nicht, das Baby erneut aus seinem Bettchen zu nehmen. Er spürte, dass er in dem Kleinen irgendetwas unwiderruflich zerstört hatte. Aber er würde es nicht zugeben, das beschloss er im gleichen Augenblick. Es war einfach so passiert. Der Kleine hatte so wie jetzt in seinem Bettchen gelegen, als Hendrik nach ihm gesehen hatte, und basta. Wer sollte ihm schließlich das Gegenteil beweisen?
Er rief den Notarzt an, und Konstantin wurde auf dem schnellsten Weg in die Unfallklinik gebracht. Das Baby wies die typischen Schütteltrauma-Symptome auf. Retinale und subdurale Blutungen. Sein Hirn war durch Nervenfaserzerreißungen irreversibel geschädigt. Es würde bleibende geistige und körperliche Behinderungen zurückbehalten.
Beim Konfrontationsgespräch leugnete Hendrik so beharrlich, wie er es sich vorgenommen hatte. Wieder und wieder beteuerte er, dass er den Kleinen zum Schlafen hingelegt habe. Als er nach etlichen Stunden nach ihm gesehen habe, hätte Konstantin wie leblos in seinem Bett gelegen. Er habe sofort den Notarzt gerufen, das Ganze sei schrecklich, aber ihn treffe keine Schuld.
Luisa schien genau zu spüren, dass er nicht die Wahrheit sagte. Sie starrte ihn die ganze Zeit nur fassungslos an. Aber sie sagte kein Wort, jedenfalls nicht an diesem Tag.
Während Konstantin auf der Intensivstation lag, schien sie mit einem Entschluss zu ringen. Erst als sich der Zustand des Babys so weit stabilisiert hatte, dass es in eine Reha-Einrichtung verlegt werden konnte, stellte sie Hendrik zur Rede.
»Ich weiß, dass du das warst«, sagte sie. »Ich habe es dir sofort angesehen. Mittlerweile weiß ich auch, wie das heißt, was du mit Konstantin gemacht hast: Schütteltrauma.«
Er machte einen schwachen Versuch, sich zu verteidigen. Aber Luisa ließ ihn nicht zu Wort kommen.
»Ich will, dass du aus meinem und Konstantins Leben verschwindest«, sagte sie. »Wenn ich mit ihm aus der Reha zurückkomme, musst du ausgezogen sein.«
Mit den Sozialdienst-Mitarbeiterinnen in der Reha-Einrichtung beratschlagte Luisa, wie es nun weitergehen sollte. Sie war entschlossen, ihre Arbeitsstelle aufzugeben und sich nur noch um ihren schwerbehinderten Sohn zu kümmern. Aber wie sollte sie das alles bezahlen? Sie machte sich Vorwürfe, weil sie nicht rechtzeitig reagiert hatte. Sie hatte ja gesehen, wie frustriert Hendrik war, seit er seinen Job verloren hatte. Doch sie hatten sich nur
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