Deutschland misshandelt seine Kinder (German Edition)
der Mitarbeiter sozialpädagogischer Dienste und
98
% der Mitarbeiter von Beratungs- und Therapieeinrichtungen eine strafrechtliche Verfolgung der Täter für ein inadäquates Vorgehen«
hielten (
Kindesmisshandlung,
S. 235 ). Als Gründe gaben die Befragten überwiegend an, dass sie den Opfern die Belastung durch ein Strafverfahren ersparen wollten. Auch wollten sie nicht das Risiko eingehen, dass das Verfahren ergebnislos eingestellt oder der Täter gar freigesprochen werden könnte. Dann nämlich stünde das Opfer als vermeintlicher Lügner dar und wäre »sekundär viktimisiert«, also ein zweites Mal zum Opfer gemacht worden.
Auch heute noch bekommen wir solche Bedenken häufig von Klinikärzten oder Sozialpädagogen zu hören. Wenn sie jedoch von uns erfahren, dass die Anzeige auch gegen
unbekannt
gestellt werden kann und dass die Opfer ohne Strafanzeige nicht entschädigt werden können, dann schmilzt ihr Widerstand oft dahin.
Mittlerweile gibt es zumindest an Berliner Kliniken etliche Ärzte, die in solchen Fällen von sich aus Anzeige erstatten oder die Angehörigen über die Notwendigkeit dieses Schrittes informieren. Doch das geschieht noch immer zu selten.
Das folgende Fallbeispiel zeigt, wie wichtig es gerade bei lebenslang schwerstgeschädigten Misshandlungsopfern ist, dass sie durch den Opfer-Entschädigungsfonds unterstützt werden.
Hin- und hergerissen
Luisa Bürgel und Hendrik Petzold kannten sich ein halbes Jahr, als sie einen folgenschweren Entschluss fassten: Sie wollten eine Familie gründen und mindestens drei Kinder bekommen. Jedenfalls wollte Luisa das, und Hendrik stimmte ihr zu.
Gemeinsam bezogen sie eine geräumige Wohnung. Luisa wurde schwanger, und sie richteten das Kinderzimmer ein. Das
erste
Kinderzimmer, wie Luisa bei jeder Gelegenheit betonte. Nach der Geburt würde sie zu Hause bleiben und sich um das Kind kümmern. Hendrik würde für den Lebensunterhalt der Familie sorgen. Sie hatte gelesen, dass der ideale Altersabstand zwischen Geschwistern eineinhalb bis zwei Jahre betrug. Und so stand für Luisa schon mehr oder weniger fest, wann sie das zweite und das dritte Kinderzimmer einrichten würden.
Ihr erstes Kind war ein Junge, Konstantin. Eigentlich hatten sie geplant, dass Luisa nach der Geburt ihre Arbeitsstelle aufgeben würde. Aber zwischenzeitlich war das Catering-Unternehmen, in dem Hendrik als Einkaufsleiter beschäftigt war, in wirtschaftliche Turbulenzen geraten. So behielt Luisa vorsichtshalber ihren Job als Sachbearbeiterin bei einer Versicherungsagentur.
Hendrik ging in Elternzeit und kümmerte sich um Konstantin. So richtig glücklich waren sie beide nicht mit dieser Regelung. Aber es sollte ja nur ein Provisorium sein, bis sich Hendriks Firma wieder stabilisiert oder er selbst eine bessere Stelle gefunden hätte.
Konstantin war sechs Wochen alt, als die Catering-Firma in Konkurs ging. Aus der Elternzeit heraus bewarb sich Hendrik bei diversen Unternehmen, doch er bekam eine Absage nach der anderen.
Luisa ging jeden Morgen zur Arbeit, und Hendrik kümmerte sich um das Kind. Er war der Hauptverdiener gewesen, und nun waren sie ständig knapp bei Kasse. Er schrieb Bewerbungen am Fließband, aber es kam nichts dabei heraus. Hendrik fühlte sich zunehmend in der Falle. Auch Luisa wurde immer unzufriedener. So hatten sie sich das beide nicht vorgestellt mit ihrem Familienglück.
Konstantin war anfangs ein friedliches und zufriedenes Baby gewesen. Doch das änderte sich, als seine Eltern immer frustrierter wurden. Der Kleine bekam Schreianfälle und war kaum mehr zu beruhigen. Abends kam es immer öfter vor, dass sich Luisa und Hendrik stritten. Dann schrien sie mit dem Säugling um die Wette.
Hendrik kam sich wie ein Gefangener vor. Er steigerte sich regelrecht in diese Vorstellung hinein: Nicht er passte auf Konstantin auf, sondern der Kleine war sein Wächter, der ihn wie mit unsichtbaren Ketten gefesselt hielt.
Eines Tages klingelte das Telefon. Am Apparat war der Personalchef eines Unternehmens, bei dem sich Hendrik beworben hatte. Als derzeitige Beschäftigung hatte er bis dahin immer angegeben:
»Hausmann in Vaterzeit«.
Aber mittlerweile war er sicher, dass er genau deshalb laufend Absagen bekommen hatte. Also hatte er diesmal geschrieben:
»Kreative Auszeit/Fortbildung«.
Das war zwar knapp an der Wahrheit vorbei, denn seit Konstantin diese Schreianfälle bekam, war Hendrik ständig so ausgepumpt, dass er sogar beim Fernsehkrimi einschlief. Aber der
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