Deutschland misshandelt seine Kinder (German Edition)
praktisch immer, wenn sie wach war. Erst wenn sie völlig erschöpft war, fiel sie in unruhigen Schlaf. Doch nach einer Stunde war sie wieder wach und fing aufs Neue an zu schreien.
Ein halbes Jahr nach der Geburt hatte sich Sabrinas Leben in einen Albtraum verwandelt. Sie liebte ihre Tochter, aber sie war mit ihren Kräften am Ende. Sie wusste genau, dass Alina nicht schrie, um sie zu ärgern. Aber genauso deutlich spürte sie, wie Wut, Frust und Erschöpfung sich in ihr zu etwas Explosivem vermischten.
Nach einer weiteren Nacht ohne Schlaf waren Mutter und Tochter gerade weggedämmert, als es an der Wohnungstür klingelte. Sofort war auch Alina wieder wach und schrie, als sollte es ihr ans Leben gehen. Sabrina nahm sie auf den Arm und wankte todmüde zur Tür.
Es war fünf Uhr früh. Vor ihr stand der Nachbar aus der Wohnung gegenüber. Das war eigentlich ein ganz netter junger Mann, aber heute machte er ein finsteres Gesicht. Er sagte etwas zu ihr, doch Alina schrie so laut und sie selbst war so müde, dass sie ihn nicht gleich verstand.
Also bat sie ihn, seine Worte zu wiederholen. Und da fing auch der Nachbar an zu schreien. »Bringen Sie das verdammte Balg zur Ruhe!«, brüllte er sie an. »Oder noch besser, ziehen Sie endlich aus! Sie terrorisieren das ganze Haus mit diesem Höllengeschrei!«
Sabrina blieb vor Schreck die Luft weg. Sie starrte den Nachbarn eine halbe Minute lang an und knallte die Tür dann wieder zu.
Alina schrie, als ob sie bei lebendigem Leib geröstet würde.
»Sei doch still«, flüsterte Sabrina. »Alle hassen uns schon. Der Vermieter setzt uns vor die Tür, wenn du so weitermachst! Willst du das, Alina?«
Sie packte die Kleine unter den Armen und hielt sie so vor sich, dass Alina sie ansehen musste. Aber das Baby schrie einfach weiter, und Sabrina spürte, wie in ihrem Kopf etwas leise peng! machte.
Eine Sicherung, dachte sie noch, in meinem Kopf ist eine Sicherung durchgeknallt.
Mit dem schreienden Baby im Arm ging sie ins Kinderzimmer. Sie legte Alina in ihr Gitterbettchen, und das Baby schrie immerzu weiter.
»Sei still!«, rief Sabrina. »Sei doch endlich still!«
Die Kleine hielt ganz kurz inne und schrie dann umso schriller weiter. Plötzlich machte sich Sabrinas Hand selbstständig. Sie schoss auf das Baby hinab und kniff ihm kräftig in den Arm.
Alina wurde schlagartig leise. Sie starrte ihre Mutter an und wimmerte nur leise vor sich hin.
Mein Gott, dachte Sabrina, was habe ich gemacht? Fassungslos starrte sie auf das gut gepolsterte Ärmchen ihrer Tochter, das sich sofort klatschrot verfärbte.
Sie war so übermüdet, dass sie sich wie unter einer Glocke aus Milchglas fühlte. Trotzdem spürte sie, dass sie gerade den ersten Schritt in eine furchtbar falsche Richtung gemacht hatte. Und dass sie alles tun musste, damit es ein einmaliger Ausrutscher blieb.
Sie zog Alina an und machte sich auf den Weg zur Klinik. Wie durch ein Wunder schlief die Kleine die ganze Zeit, während Sabrina sie im Kinderwagen durch die erwachende Stadt schob.
Sie meldete sich bei der Notaufnahme der Klinik. »Schauen Sie sich das bitte an«, sagte sie zu Dr. Hilda Petersen, der diensthabenden Ärztin. Sie schob den Ärmel an Alinas rechtem Arm hoch. »Das habe ich gemacht, verstehen Sie? Ich habe Alina gekniffen, weil ich die Nerven verloren habe. Und ich befürchte, dass über kurz oder lang noch etwas Schlimmeres passiert, wenn ich nicht sofort Hilfe bekomme.«
Sie bekam einen Weinkrampf. Wie zur Bestätigung ihrer Worte begann Alina aus Leibeskräften zu schreien.
Dr. Petersen machte Meldung beim Jugendamt, und der zuständige Sachbearbeiter bat uns um ein Gutachten. Wir untersuchten Alina und stellten fest, dass das Hämatom an ihrem Oberarm in der Tat durch kräftiges Kneifen hervorgerufen worden war.
Doch ansonsten wies das Baby keinerlei Misshandlungsspuren auf. Alina war ein gepflegtes Kind, altersgerecht entwickelt und körperlich gesund. Abgesehen von den »Regulationsstörungen«, denen das Baby durch zermürbendes Dauerschreien Ausdruck verlieh.
»Wir raten in diesem Fall von einer Meldung bei den Ermittlungsbehörden ab«,
schrieben wir in unserem Gutachten.
»Dagegen empfehlen wir, Sabrina Gerlicher umgehend die Hilfe zu geben, um die sie so dringend gebeten hat.«
Wäre der Mann im Jugendamt der üblichen Logik des deutschen Kinderschutzsystems gefolgt, dann wären Sabrina Gerlichers Hilfeschrei und unsere Empfehlung mit Sicherheit ungehört verhallt. Aber der
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