Deutschland misshandelt seine Kinder (German Edition)
pädagogisches und entwicklungspsychologisches Wissen vermittelt. Auch eine Schulung in Familiensoziologie und der Förderung kreativer Fähigkeiten gehört zu ihrer Ausbildung.
Ähnlich sieht es in Frankreich aus: Dort entspricht die Hochschulausbildung der Erzieherinnen weitgehend der Qualifikation von Primarschullehrerinnen. Entsprechend ist dieser Berufsstand etwa in Schweden oder Finnland nicht nur weit besser angesehen als bei uns – seine Angehörigen werden auch deutlich besser bezahlt.
Neben Ausbildung und Engagement der Fachkräfte ist der Personalschlüssel entscheidend für die Qualität des Angebots. In finnischen Krippen betreut eine Erzieherin maximal vier Kinder unter drei Jahren. Ähnlich sieht es in Schweden aus: Selbst bei den Kindergartenkindern zwischen drei und sechs Jahren kümmern sich jeweils drei hochqualifizierte Erzieherinnen um Gruppen von höchstens zwanzig Kindern.
Dagegen ist in Deutschland nicht einmal das Berufsbild der Erzieherin bzw. des (in der Realität kaum anzutreffenden) Erziehers einheitlich definiert. In manchen Bundesländern wird der berufliche Nachwuchs seit einigen Jahren gleichfalls an Fachhochschulen unterrichtet. Doch vielerorts genügt noch immer die einfache Ausbildung an einer Fachschule.
Auch der Betreuungsschlüssel in deutschen Kitas variiert von einem Bundesland zum anderen. Obwohl hierzulande Kinderpflegerinnen und sogar Praktikantinnen mitgezählt werden, wird der von Experten empfohlene Betreuungsschlüssel von 1 : 2 bis 1 : 4 bei Unterdreijährigen meist nicht erreicht. Bei den größeren Kindergartenkindern sieht es noch düsterer aus: Dort kommen oftmals zehn oder mehr Kinder auf eine – meist schlecht ausgebildete – Erzieherin.
Aufgrund des bundesweit forcierten Kita-Ausbaus mangelt es derzeit sogar an gering qualifizierten Fachkräften. Also werden arbeitslose Discountmarkt-Verkäuferinnen im Hauruckverfahren zu »Erzieherinnen« umgeschult – »Verwahrerinnen« wäre wohl die treffendere Bezeichnung. Selbst die Rekrutierung langzeitarbeitsloser Hartz- IV -Bezieher wurde bereits angeregt, um die Lücke irgendwie zu schließen.
Durch derart grotesken Aktionismus ist den Kindern, die in ihren Familien von Misshandlung bedroht oder bereits betroffen sind, gewiss nicht gedient. Ganz zu schweigen von einer adäquaten Förderung der individuellen Entwicklungspotenziale, die von hastig umgeschulten Supermarkt-Kassiererinnen wohl kaum erwartet werden kann. Dabei bräuchten gerade die Kinder aus bildungsfernem Milieu besonders dringend gut ausgebildete Kita-Erzieherinnen, um die Fertigkeiten zu entwickeln, die ihnen zu Hause niemand beibringt.
Zum Schreien!
Als Sabrina Gerlicher schwanger wurde, zeigte sich ihr Lebensgefährte Sascha wenig angetan. »Lass es wegmachen«, war sein Vorschlag, aber das kam für Sabrina nicht in Frage. Stattdessen war dann Sascha ein halbes Jahr später weg.
Sabrina beschloss, ihr Kind allein aufzuziehen. Sie war 25 und freute sich seit Jahren darauf, Mutter zu werden. Ihrer Tochter gab sie den Namen Alina.
Zur Taufe reisten die stolzen Großeltern aus Süddeutschland an. Danach war Sabrina auf sich gestellt.
Anfangs ging alles gut. Sie war glücklich mit ihrem Baby, auch wenn Alina ein schwieriges Kind war. Die Kleine quengelte und schrie viel, wollte nicht trinken und konnte dann vor Hunger nicht schlafen. »Regulationsstörungen«, sagte die Kinderärztin, »das gibt sich.« Doch es gab sich nicht.
Sabrina kam sich mehr und mehr wie eine Versagerin vor. Die Babys anderer Mütter lagen friedlich schlafend oder selig lächelnd im Kinderwagen. Alina aber brüllte sich die Seele aus dem Leib.
»Ein Schreikind«, sagte die Kinderärztin mittlerweile. »Da braucht man gute Nerven. Haben Sie denn jemanden, der Sie unterstützt?«
Doch da war niemand weit und breit. Sabrina war erst ein knappes Jahr vor der Geburt nach Berlin gezogen. Seit Sascha ausgezogen war, hatte sie in der ganzen Stadt keine engeren Freunde mehr.
Jetzt hätte sie gerne ihre Mutter oder eine Tante in der Nähe gehabt, damit die ihr ab und zu einen Ratschlag geben oder einfach mal auf Alina aufpassen konnten. Aber ihre Familie lebte siebenhundert Kilometer entfernt im Allgäu. Auch professionelle Unterstützung durch eine Kinderfrau oder Tagesmutter wäre hilfreich gewesen, doch mit dem Elterngeld, das sie vom Staat erhielt, kam Sabrina so schon kaum über die Runden.
Also versuchte sie weiter, allein zurechtzukommen. Alina schrie jetzt
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