Deutschland misshandelt seine Kinder (German Edition)
begrenzten Zeitraum. Doch für die Anschlussfinanzierung können Angehörige oder Vormünder von Misshandlungsopfern Gelder nach dem Opfer-Entschädigungsgesetz ( OEG ) abrufen.
Dieses Gesetz und der von Bund und Ländern finanzierte Opfer-Entschädigungsfonds sind in der Öffentlichkeit viel zu wenig bekannt. Im Jahr 2008 stellten von 210 000 Anspruchsberechtigten nur 10 , 5 Prozent einen Antrag auf Entschädigung nach dem OEG . Dabei ist gerade bei Kindesmisshandlungsdelikten die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die Opfer Versorgungsleistungen nach dem OEG erhalten.
Bei diesen Zahlungen handelt es sich keineswegs um Almosen. Vielmehr ist der Entschädigungsanspruch der Gewaltopfer eine direkte Folge des staatlichen Gewaltmonopols.
Misshandlungsopfer haben Anspruch auf Entschädigung
Als Träger des Gewaltmonopols ist der Staat verpflichtet, jede Person, die sich rechtmäßig auf seinem Hoheitsgebiet aufhält, vor Gewalttaten zu beschützen. Wird sie dennoch zum Gewaltopfer, hat der Staat in seiner Schutzpflicht versagt. Grundsätzlich hat das Opfer dann Anspruch auf Entschädigung. Dieser wurde erstmals 1979 durch das Bundessozialgericht bestätigt, die höchste Instanz der deutschen Sozialgerichtsbarkeit.
Das OEG ist Bestandteil des Ersten Sozialgesetzbuchs. Dort sind auch die Voraussetzungen für einen Entschädigungsanspruch geregelt:
Es wurde eine Gewalttat begangen, also ein vorsätzlicher, rechtswidriger, tätlicher Angriff gegen eine Person.
Die Gewalttat wurde im Bundesgebiet, auf einem deutschen Schiff oder in einem deutschen Flugzeug verübt.
Einen Anspruch auf Versorgung nach dem OEG haben die Gewaltopfer selbst oder ihre Hinterbliebenen, also Witwer, Waisen oder Eltern. Die Versorgung wird nur auf Antrag gewährt. Die Leistungen umfassen u.a.
Heil- und Krankenbehandlung einschließlich Rehabilitation
Beschädigtenrente
Hinterbliebenenversorgung
Bestattungs- und Sterbegeld
Renten- und Fürsorgeleistungen
Bei lebenslang geschädigten Opfern von Kindesmisshandlung steht meist die Finanzierung von Therapien und Hilfsgeräten im Vordergrund. Die Krankenkasse trägt die Kosten in der Regel nur für einen begrenzten Zeitraum. Damit der Opfer-Entschädigungsfonds die Anschlussfinanzierung übernimmt, muss eine hinreichend ausführliche ärztliche Dokumentation der bisherigen Therapien eingereicht werden.
Strafanzeige stellen!
Wie lässt sich nachweisen, dass die geschädigte Person Opfer einer Gewalttat wurde? Hierfür ist im Regelfall eine Strafanzeige erforderlich. Diese muss zeitnah nach der Tat gestellt werden, also spätestens nach einigen Wochen oder Monaten. Das ist den Betroffenen meist nicht bekannt, und wenn sie davon wissen, schrecken sie vor diesem Schritt oftmals zurück. Dabei ist es keineswegs nötig, dass das Opfer selbst die Anzeige erstattet. Es muss auch kein Tatverdächtiger benannt werden – eine Anzeige gegen unbekannt genügt. Selbst wenn die Ermittlungen eingestellt werden und die Staatsanwaltschaft keine Anklage erhebt, ist damit die formale Voraussetzung erfüllt.
Ganz auf der sicheren Seite sind die Antragsteller, wenn eine Gerichtsverhandlung stattgefunden hat und der Täter verurteilt worden ist. Aber auch ein »Freispruch zweiter Klasse« ist äußerst hilfreich, um den Anspruch des Opfers zu beweisen: Bei diesen Freisprüchen »aus Mangel an Beweisen« wird richterlich festgestellt, dass die Tat verübt worden ist. Nur kann sie keinem der Tatverdächtigen mit der nötigen Sicherheit zugeordnet werden (siehe Kapitel 4 ).
Wenn ein Kind von seinen Eltern misshandelt wurde und daraufhin fremduntergebracht wird, erhält es einen gesetzlichen Vormund. Dieser prüft in der Regel, ob ein Anspruch nach dem OEG besteht, und leitet die nötigen Schritte ein. Doch in den meisten Fällen bleibt das misshandelte Kind in der Familie, weil der Täter nicht festgestellt werden konnte. Dann wird leider meist versäumt, eine Strafanzeige und einen Antrag auf Entschädigung zu stellen.
Die Ärzte in den Kliniken, in denen die Eltern mit dem verletzten Kind vorstellig werden, wissen oftmals selbst nicht, dass eine Strafanzeige erforderlich ist, damit die Opfer entschädigt werden können. Und auch wenn sie es wissen, zögern sie nicht selten, die Polizei einzuschalten. Das gilt in noch höherem Maß für die nichtärztlichen Mitarbeiter sozialmedizinischer Einrichtungen.
In den 1990 er-Jahren hat eine Studie gezeigt, dass
»ca.
70
% der Mitarbeiter medizinischer Einrichtungen,
86
%
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