Deutschland misshandelt seine Kinder (German Edition)
gestritten, anstatt gemeinsam nach einer Lösung zu suchen.
»Sie können Versorgungsleistungen aus dem Opfer-Entschädigungsfonds für ihren Jungen beantragen«, erklärten ihr die Sozialarbeiterinnen. »Aber dafür müssen Sie Strafanzeige bei der Polizei erstatten.«
»Das kann ich nicht«, sagte Luisa. »Ich kann Hendrik nicht anzeigen.«
Glücklicherweise kannten sich die Sozialarbeiterinnen mit der Gesetzeslage aus. Sie erklärten der jungen Mutter, dass es ausreiche, wenn sie »Anzeige gegen unbekannt« erstatte. Aber daran komme sie nicht vorbei.
»Spätestens in ein paar Jahren weigert sich die Krankenkasse, all die teuren Therapien und Zusatzleistungen für Konstantin zu bezahlen«, erläuterten sie. »Nur wenn Sie möglichst bald Anzeige erstatten, kann der Opfer-Entschädigungsfonds die Kosten übernehmen.«
Es war eine schwere Entscheidung für Luisa. Aber noch ehe die dreimonatige Reha-Maßnahme beendet war, stand ihr Entschluss fest. Sie erstattete Strafanzeige – nicht gegen »unbekannt«, sondern gegen den Vater ihres Kindes. Sie war zu dem Schluss gelangt, dass es auch für ihren Sohn besser war, wenn sie für klare Verhältnisse sorgte.
Hendrik wurde im LKA 125 vernommen und stritt weiterhin alles ab. Doch unser rechtsmedizinisches Gutachten ließ keinen Zweifel daran, dass Konstantin ein Schütteltrauma erlitten hatte. Da der Vater am fraglichen Tag allein bei dem Baby gewesen war, kam außer ihm niemand als Täter in Betracht.
Hendrik Petzold wurde zu einer zweijährigen Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt.
Konstantin ist mittlerweile sechs Jahre alt. Er befindet sich geistig auf dem Stand eines Kleinkindes und leidet unter dauerhaften Sprach-, Seh- und Bewegungsstörungen. Doch dank der speziellen Sprachtherapie, die seit Jahren vom Opfer-Entschädigungsfonds bezahlt wird, kann er sich immer besser verständlich machen. Der Fonds hat auch die Kosten für den Sportrollstuhl übernommen, den der Junge braucht, um an Sportkursen für Schwerbehinderte teilzunehmen.
Luisa Bürgel kümmert sich aufopfernd um ihren Sohn. Konstantin wird niemals ein normales Leben führen können, aber dank der Unterstützung durch den Opfer-Entschädigungsfonds bekommt er die bestmöglichen Therapien und Zusatzleistungen.
Zum Schluss noch eine Handlungsempfehlung für unsere Leser: Wenn Sie glaubhaft davon erfahren, dass ein Kind Opfer eines Gewaltdelikts geworden ist – erstatten Sie Strafanzeige gegen den mutmaßlichen Täter oder gegen unbekannt.
Dazu sind Sie nicht nur laut Strafgesetzbuch (§ 138 St GB ) verpflichtet – bei Unterlassen droht eine Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren. Durch Ihre Anzeige tragen Sie entscheidend dazu bei, dass der Gesundheitszustand und die gesellschaftlichen Teilhabechancen des Misshandlungsopfers im Rahmen des therapeutisch Möglichen verbessert werden können.
Wer dagegen wegschaut und sein Wissen verschweigt, schützt den Täter, vergrößert das Leid des Opfers und macht sich unter Umständen mitschuldig an dessen Tod.
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10 Rechtzeitig helfen – nicht nachträglich reparieren
Ein Großteil der Misshandlungsfälle, von denen wir in diesem Buch berichtet haben, hätte sich in vielen anderen europäischen Ländern so nicht ereignen können. In Schweden oder in Finnland, in den Niederlanden und in Frankreich werden junge Eltern bei der Betreuung und Erziehung ihrer Kinder von Anfang an unterstützt. Insbesondere in den skandinavischen Ländern könnte es kaum passieren, dass Kinder über Monate oder Jahre hinweg in ihren Familien unbemerkt misshandelt werden. Auch das Risiko von »Kurzschluss«-Misshandlungen durch akut überforderte Eltern ist in diesen Ländern weit geringer, da die Familien durch ein engmaschiges Hilfsangebot entlastet werden.
Beispiel Schweden: Fast 90 Prozent aller zweijährigen Kinder werden in der
Dagis,
der Kindertagesstätte, professionell betreut. Ähnlich sieht es in Finnland aus – dort sind die Kitas für Unterdreijährige zehn Stunden täglich geöffnet, auch während der Schulferien.
Beim Ausbau des Kinderkrippensystems holt Deutschland derzeit zwar rapide auf – doch leider nur, was die Quantität des Betreuungsangebots angeht. In qualitativer Hinsicht hinken deutsche Kitas dem skandinavischen Vorbild meilenweit hinterher.
Die Erzieherinnen in finnischen und schwedischen Kitas haben ein dreijähriges, von Anfang an stark praxisorientiertes Hochschulstudium hinter sich. Während des Studiums wird ihnen
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