Deutschland schafft sich ab - Wie wir unser Land aufs Spiel setzen
dauerhaft zu vorwiegend
öffentlich finanzierten Dienstleistungen verschiebt, dann hat das Folgen für den Staatsanteil am BIP: Er müsste in der Tendenz steigen, oder der staatlich regulierte Anteil müsste sich erhöhen, etwa in Form einer obligatorischen privaten Kranken- oder Pflegeversicherung. Im deutschen Modell jedenfalls scheint es kaum denkbar, die Beschäftigung in Bildung, Gesundheit und Pflege so zu steigern, wie es sowohl aus Gründen des Arbeitsmarktes wie der Nachfragestruktur geboten wäre.
Für die alten Industriestaaten scheint das angelsächsisch orientierte Gedankenmodell, nämlich dass eine Wirtschaft umso stärker wächst und umso mehr Beschäftigungsmöglichkeiten bereitstellt, je niedriger der Staatsanteil ist, an konzeptionelle Grenzen zu stoßen. Die hohen Beschäftigungsgrade und gleichzeitig guten Wachstumsraten der skandinavischen Volkswirtschaften sind letztlich auch darauf zurückzuführen, dass dort bei nachhaltig finanzierten hohen Staatsanteilen ein viel größerer Teil der Beschäftigten im öffentlich finanzierten Sektor tätig ist. 13
Mindestsicherung und Marktorganisation
Niemand muss arbeiten, um in Deutschland 60 Prozent des mittleren Nettoeinkommens zu erzielen, dafür sorgt die staatliche Grundsicherung. Das hat Folgen. So ist es rein unter dem Aspekt der Einkommenserzielung nicht rational, seine Arbeitskraft anzubieten und tatsächlich zu arbeiten, solange man damit nur ein Einkommen erzielen kann, das lediglich in der Nähe oder gar unter 60 Prozent des mittleren Einkommens liegt. Menschen mit niedriger Produktivität werden deshalb als Nachfrager am Arbeitsmarkt gar nicht in Erscheinung treten, auch wenn sie dem Arbeitsmarkt rein formal zur Verfügung stehen. Und diejenigen, die sich Verdienstmöglichkeiten am informellen Arbeitsmarkt ausrechnen, etwa als gelegentliche Aushilfen oder bei häuslichen Diensten, werden ebenfalls nicht als Nachfrager am regulären Arbeitsmarkt auftreten, solange sie dort kein Nettoeinkommen erzielen können, das fühlbar über 60 Prozent des mittleren Einkommens liegt.
Migranten aus dem Nahen Osten oder der Türkei haben das
große Los schon gezogen, wenn sie es ins deutsche System der Grundsicherung schaffen, denn dann verfügen sie - ohne dass ihnen eine Arbeits- oder nennenswerte Integrationsleistung abgefordert wird - über ein Einkommen, das sie in ihrer Heimat schon zu wohlhabenden Bürgern machen würde. Ohne Arbeit verdienen sie in Deutschland zumeist wesentlich mehr als in ihrer Heimat mit sehr harter Arbeit - wenn sie dort überhaupt welche fänden. Auch diese Gruppe tritt auf dem Arbeitsmarkt nicht in Erscheinung.
Auf der anderen Seite bemühen sich die Anbieter von Arbeit, also Unternehmen, Behörden und andere Organisationen, ihre Arbeitsabläufe so zu organisieren, dass sie Menschen mit niedriger Arbeitsproduktivität möglichst gar nicht brauchen, weil diese bei Löhnen auf dem Niveau von mindestens 60 Prozent oder mehr des mittleren Einkommens zu teuer sind. Die Grundsicherung wirkt am Arbeitsmarkt also wie ein impliziter Mindestlohn, ohne dass man diesen extra festlegen müsste.
Diese Zusammenhänge erklären einige Missstände, über die die deutsche Öffentlichkeit sich immer wieder erregt. Wieso, wird gefragt, wird nicht mehr Arbeit für niedrige Qualifikationen und Produktivitäten auf dem Arbeitsmarkt angeboten? Die Antwort ist ganz einfach: Der implizite Mindestlohn ist unrentabel hoch. Und warum kommen jedes Jahr ganze Scharen von Osteuropäern zum Spargelstechen, wo wir doch so viele Arbeitslose haben? Wenn die Alternative zum Spargelstechen der Hartz-IV-Bezug ist, erscheint den meisten das Grenzleid einer körperlich anstrengenden Akkordarbeit auf den Feldern einfach zu hoch im Verhältnis zum Mehreinkommen gegenüber der Grundsicherung. Außerdem sind die, die lange ohne Arbeit waren, an andauernde körperliche Anstrengungen weder geistig noch körperlich gewöhnt und geben deshalb leicht auf. Und warum hören wir so viele Klagen über Qualifikations- und Sozialisationsmängel bei Langzeitarbeitslosen? Diese Klagen sind mit einer gewissen Vorsicht zu betrachten, doch man kann zwei Tendenzen ausmachen: Zum einen führt der kontinuierlich stattfindende Austausch am Arbeitsmarkt zwingend dazu, dass sich im Bereich der Dauerarbeitslosigkeit eine negative Auslese sammelt, weil die
Rückkehr ins Arbeitsleben den besseren Kandidaten leichter fällt. Zum anderen verlieren die persönlichen und fachlichen
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