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Deutschland schafft sich ab - Wie wir unser Land aufs Spiel setzen

Titel: Deutschland schafft sich ab - Wie wir unser Land aufs Spiel setzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo Sarrazin
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Blick«. Es ist zu vermuten, dass die betroffenen Jugendlichen über seine Appelle lachen - wenn sie überhaupt Kenntnis von ihnen bekommen. Das ist traurig, denn Scholz hat ja Recht mit seiner Befürchtung, dass ein Jugendlicher, der mit 16 Jahren die Schule verlässt und keine Berufsausbildung durchläuft, in den nächsten fünf Lebensjahrzehnten »immer wieder Kunde des Arbeitsministers sein wird«. 17
     
    Kulturelle Prägung und Entwicklung der Gesellschaft
    »Die wollen ja alle, aber sie hatten die Chance nicht.« Dieser Satz ist für manche richtig und für viele falsch. Im Übrigen ist das mit dem »Wollen« so eine Sache. Als 13-jähriger Schüler wollte ich schon gerne Latein lernen, ich wollte auch jeden Tag eine Seite Vokabeln in der Wortkunde üben, ich tat es nur nicht, trotz vieler Ermahnungen von Eltern und Lehrern. Am Ende blieb ich sitzen, unter anderem mit einer fünf in Latein, die ich zu Recht bekam. Das war mir eine Lehre; ein- für allemal hatte ich begriffen, dass niemand mir die Vokabeln einfach in den Kopf tut. Bei mir hat die Sanktion und die Furcht, es nicht zu schaffen, gewirkt (sie wirkt übrigens bis heute) und die weitere Bildungslaufbahn befördert. Wären meine Eltern bildungsfern und Hartz-IV-Empfänger gewesen, so wäre ich diesen Weg wahrscheinlich auch gegangen, was weiß man schon mit 13 Jahren! Wer keinen Ehrgeiz hat und keine Not fürchtet, der kann kaum motiviert und gar nicht sanktioniert werden.

    Unsere Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik ist insoweit aufgebaut auf Illusionen über die menschliche Natur. Zwar ist heute unbestritten, dass der rational handelnde homo oeconomicus eine Kunstfigur ist - schon deshalb, weil Rationalität bei oft widersprüchlichen und wechselhaften eigenen Präferenzen schwer zu definieren und bei ungewissen Rahmenbedingungen noch schwerer durchzuhalten ist. Durch die Rationalitätsprämisse wird der Mensch kognitiv überfordert. 18 Auf jeder kognitiven Ebene aber vermag er dem von ihm wahrgenommenen eigenen Nutzen sehr wohl zu folgen. Die Hypothese, dass der Mensch im Zweifel eigennützig handelt, hat stets eine hohe prognostische Kraft.
    Damit ist die Komplexität des instinktgesteuerten und kulturell vermittelten Verhaltens aber nicht annähernd erklärt. Auf die genetische Prägung des Menschen wird die kulturelle Prägung der Gesellschaft, in der er seine Sozialisation erfährt, aufgesetzt, und die Prägungen durch sein unmittelbares Umfeld treten hinzu. Insofern spielt in der Menschheitsgeschichte neben der genetischen Evolution durch natürliche Selektion die kulturelle Evolution eine Rolle, die Menschen und Gesellschaften in ganz unterschiedliche Richtungen führen kann. 19 Die säkularisierte Industriegesellschaft, in der wir leben, ist nur eine von vielen denkbaren Entwicklungsrichtungen mit zahlreichen Unterformen. Natürlich funktioniert die süditalienische Gesellschaft völlig anders als die Gesellschaft im Schwabenland, und beide sind weit entfernt vom amerikanischen Mittelwesten.
    Die jeweils unterschiedliche kulturelle und zivilisatorische Entwicklung führt zu unterschiedlichen Fortpflanzungs- und Überlebensmustern und bringt auch unterschiedliche genetische Ausprägungen hervor. Hier wirken kulturelle Entwicklung und natürliche Selektion aufeinander ein. Dass sich beispielsweise die Hautfarbe an unterschiedliche Selektionsbedingungen bereits in wenigen Generationen anpasst, ist bekannt. Grundsätzlich gilt das auch für körperliche Fähigkeiten, mentale Dispositionen und intellektuelle Eigenschaften. Es ist daher nur natürlich, dass sich Völker und Gesellschaftstypen mit unterschiedlichen kulturellen Traditionen auf die Anforderungen der modernen Industriegesellschaft besser oder
schlechter einstellen und ganz unterschiedliche Entwicklungsstände haben.
    Der moderne Sozialstaat hat die seit Beginn der Menschheitsgeschichte geltenden Selektionsmechanismen außer Kraft gesetzt, indem er die Sterblichkeit vom materiellen Status weitgehend entkoppelt hat, und das ist gut so. Er hat ferner die Alterssicherung vom Fortpflanzungsverhalten gelöst, was wesentlich dazu beigetragen hat, dass die Nettoreproduktionsraten vieler moderner Industriegesellschaften weit unter das bestandserhaltende Niveau gesunken sind.
    Die früheren, eher ständisch orientierten und auf ererbten Privilegien aufbauenden Gesellschaften banden einen großen Teil der Begabten in ihrer jeweiligen Schicht. Je größer die Durchlässigkeit einer Gesellschaft

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