Dezembergeheimnis
Viertelstunde vor Schichtbeginn um acht Uhr los. Als das Auto mit lautem Tuckern zum Leben erwachte, hoffte sie wie jeden Morgen, dass die alte Dame im Untergeschoss davon nicht aufwachte. Kaum, dass sie sich durch den morgendlichen Verkehr gequält und das Auto auf dem Angestelltenparkplatz gestoppt hatte, wurde sie bereits von ihrer Kollegin Maria Falk abgefangen.
Maria rieb frierend die Hände aneinander, ihr Atem stieg in kleinen Wolken auf. Die Luft war kalt und kristallklar; vielleicht würde es diese Nachtschneien. Maria winkte Lea lächelnd zu und Lea winkte zurück. Sie war wirklich eine liebe Person, etwas still, aber immer ehrlich und hilfsbereit – und nun, wo Lea sie sah, erinnerte sie sich daran, dass Maria vor Weihnachten ein Date gehabt hatte.
Wie sich herausstellte, war das auch der Grund, weswegen sie mit einer Mischung aus Aufregung und Zurückhaltung vor der Bibliothek auf Lea gewartet hatte, denn die nächsten Stunden informierte sie sie über jedes noch so uninteressant scheinende Detail aus dem Leben des Christian »Chris« Buchholz.
Lea hörte lediglich mit halbem Ohr zu – so viel Mühe sie sich auch gab, ihre Konzentration lag bei Noel. Einerseits machte sie sich Sorgen, wie er sich allein in ihrer Wohnung zurecht fand, während ihr Hirn ihr weiterhin zuverlässig Einbrecherszenarien in den Kopf pflanzte. Andererseits ertappte sie sich wiederholt dabei, wie sie ihn in die romantischen Erzählungen Marias projizierte.
Hatte sie alles Peinliche und Wichtige gut versteckt? Wann hatte sie das letzte Mal gesaugt? Oder den Tresen abgewischt? Würde er schnüffeln? Konnte er den Fernseher bedienen? Oder sich selbst Teig anrühren? Es gab offensichtlich noch so einiges, was sie bereits am Vortag hätten klären sollen.
Obwohl sie sich auch über die Feiertage austauschten und Lea ihre Freundin liebend gerne in die Problematik »Noel« einweihen wollte, scheiterte sie an einem Mangel an glaubhaften Erklärungen. Also ließ sie ihn lieber unerwähnt.
»Lea, hast du mir zugehört?«, unterbrach Maria sie, als sie gerade dabei war, sich vorzustellen, wie Noel ihren Kleiderschrank durchwühlte und sich die lächerliche Federboa umschlang, die Sally ihr vor Jahren geschenkt hatte.
»Bitte entschuldige.« Lea seufzte und fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht. An diesem Tag war einfach nichts mit ihr anzufangen; obwohl sie nur am Auskunftsschalter saß, hatte sie weder in ihr Notizbuch geguckt und etwas geschrieben, noch etwas gelesen, geschweige denn irgendeinem Besucher eine wirklich hilfreiche Information geben können.
»Geht’s dir gut? Du wirkst ungewohnt zerstreut.« Maria betrachtete sie besorgt.
»Ja, alles gut. Ich hab nur schlecht geschlafen.«
Maria nickte, wirkte aber trotzdem nicht beruhigt.
»Ich soll dir von Frau Löwenberger die Einladung zu ihrer Silvesterparty geben«, sagte sie und hielt ihr einen kleinen Umschlag entgegen. »Und dir ausrichten, dass Sally gerne wieder mitkommen kann. Ich weiß noch nicht, ob ich dieses Jahr gehe, vielleicht fliege ich auch zu meinen Eltern. Was meinst du, kommst du?«
»Mal schauen«, murmelte Lea, während sie die Karten aus dem Kuvert zog. Ihre Chefin, Frau Löwenberger, war geschieden – mit schwindelerregender Abfindung – und jedes Jahr veranstaltete sie eine große, extravagante Party, bei der nur mit Gästelisten gearbeitet wurde. Doch im Augenblick erschien Lea nichts weiter entfernt als Silvester. Sie wusste ja nicht mal, was der Nachmittag bringen würde.
Umso erleichterter war sie, als die große Uhr über dem Eingang endlich vier schlug und damit ihren Feierabend ankündigte. Mit wehenden Fahnen gab sie ihre Schicht an die nächste Kollegin ab, verabschiedete sich von allen und schwang sich hinter das Lenkrad ihres Autos. Während der ganzenFahrt kribbelte ihr Bauch, wobei sie nicht sicher sagen konnte, ob vor Aufregung oder Angst.
Gleich würde sie endlich herausfinden, was Noel den ganzen Tag getrieben hatte; sie konnte sich vergewissern, ob er etwas gegessen und – zugegeben ziemlich weit oben in der Prioritätenskala – ob er in ihrer Abwesenheit irgendetwas gefunden hatte, was sie blamieren könnte. Ein winziges bisschen freute sie sich auch auf sein Lächeln, aber das war längst nicht so groß wie die Sorge, dass etwas Besorgniserregendes passiert war.
Sie war auf jeden Fall aufgeregter, als sie sein wollte.
Als sie in ihre Straße bog, begutachtete sie sofort das Haus, welches ihre Wohnung beherbergte.
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