Dezembersturm
bist, wollte sie dich nicht mehr ins Haus lassen, und sie hat versucht, mich in ein Schweizer Internat abzuschieben! Konrad sagt, das will sie nur tun, um das Haus hier ganz für sich zu haben und große Feste feiern zu können.«
»Onkel Thomas und Tante Dorothea werden nicht zulassen, dass Ermingarde dich wegschickt«, versuchte Lore die Kleine zu beruhigen. »Ansonsten werden wir sie ertragen müssen. Das Haus Retzmann braucht nun einmal eine Dame, die es repräsentiert.«
»Dann repräsentiere du es doch!«, rief Nati zornig aus.
»Aber, aber, Nathalia! Du sollst dich doch nicht so echauff eren!«
Unbemerkt von den beiden, war Dorothea Simmern eingetreten und drohte Nati mit dem Zeigefinger. Ihre Augen blitzten jedoch fröhlich, und sie wirkte wie jemand, der es nicht erwarten kann, mit einer frohen Nachricht herauszuplatzen. Dennoch blieb Dorothea Simmern auch in dieser Situation ganz die große Dame. Sie wartete, bis ein Dienstmädchen ihr eine Tasse Tee und etwas Gebäck hingestellt hatte, aß eines der Plätzchen und musterte amüsiert Lore und Nati, die sie beide fragend ansahen.
»Mein Mann und Herr von Trettin sind heute Mittag aus Ostpreußen zurückgekehrt«, begann sie mit sanfter Stimme.
»Wirklich? Warum sind sie denn nicht mitgekommen?« Lore sah unwillkürlich zur Tür und reizte damit Dorothea zum Lachen.
»Natürlich sind sie mitgekommen. Sie sitzen jetzt im Rauch salon und trinken ein Glas Wein. Das wirst du ihnen nach dieser langen Fahrt doch wohl vergönnen.«
Lore fühlte sich fast wie Nati, wenn diese von Dorothea im gleichen sanften Ton zurechtgewiesen wurde, und hob beschwichtigend die Rechte. »Die Herren haben selbstverständlich das Recht, ein Glas Wein zu trinken. Es ist nur …«
»… so, dass wir neugierig sind, was sie zu erzählen haben«, fiel Nati ihr ins Wort.
Dorothea zog die linke Augenbraue hoch. »An dir werden wir noch einiges zu erziehen haben. Vielleicht sollten wir dich wirklich in die Schweiz schicken.«
»Nein!«, fauchte Nati und stemmte die Fäuste in die Seiten. »In die Schweiz fahre ich nicht, es sei denn, Lore kommt mit!«
»Zur Sommerfrische werdet ihr sicher dort hinfahren. Aber vorerst sehe ich noch keinen Anlass, dich in ein Internat zu geben. Später, wenn du etwas älter und wohlerzogener bist, wirst du allerdings eine Schule für höhere Töchter besuchen müssen. Aber das hat noch Zeit!« Der letzte Satz kam rechtzeitig genug, um Nati davon abzuhalten, einen ihrer alten Wutanfälle zu bekommen.Für sie zählte nur, dass sie mit Lore zusammenbleiben konnte.
Dorothea blickte Lore forschend an. »Wie behandelt die Gnädige dich jetzt?«
Diese zuckte mit den Achseln. »Ermingarde beliebt, mich nicht wahrzunehmen.«
»Sie ist aufdringlich, dumm und gierig«, erklärte Dorothea und hob sofort den Finger. »Das hast du nicht gehört, Nati, verstanden?«
Die Kleine nickte grinsend, sagte aber nichts, weil draußen auf dem Flur Schritte zu vernehmen waren. Gleich darauf klopfte es, und Thomas Simmern trat zusammen mit Fridolin ein.
»Einen schönen guten Tag, die Damen«, grüßte er lächelnd, während Fridolin einen prüfenden Blick auf Lore warf.
»Geht es dir denn wieder besser? Als ich nach Ostpreußen fahren musste, warst du noch ganz krank vor Aufregung und Erschöpfung.«
»Lore geht es bereits viel besser. Sie hat ja mich!«, erklärte Nati resolut.
»Ich glaube, ich habe es überstanden. Ich träume zwar in den Nächten noch von den schrecklichen Stunden auf der sinkenden
Deutschland
, von Ruppert und auch von all den Dingen, die in Trettin geschehen sind. Aber es wird langsam besser, und es bedrückt mich auch nicht mehr so stark.«
Dorothea zog Nati an sich, um sie zu streicheln, und nickte Lore aufmunternd zu. »Es wird sich geben, sobald es Sommer wird. Dann werde ich mit dir und Nati eine Reise in die Schweiz unternehmen. Mein Arzt rät mir dazu, und ich glaube, auch euch beiden wird die Erholung guttun.«
»Das ist eine famose Idee!«, befand Thomas Simmern. »Ich werde euch gerne für ein paar Tage begleiten.« Er wirkte einen Moment verträumt, als sehe er sich bereits über saftige Almwiesen wandernund in urigen Gasthäusern einkehren. Vorerst aber galt es, Lore über das zu informieren, was er und Fridolin in Ostpreußen erreicht hatten.
»Erzählen Sie, wie es gelaufen ist, Herr von Trettin, oder soll ich berichten?«, fragte er.
Fridolin legte die Spitzen seiner Finger aneinander und überlegte. »Ich kann mich nicht
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