Dezembersturm
entlang.
Erst als sie das Dorf schon geraume Zeit hinter sich gelassen hatte, wurde ihr klar, dass sie am Pfarrhaus vorbeigegangen war, ohne es wahrzunehmen. Doch umkehren wollte sie nicht. Ehe sie die Unterkunft annahm, die der Pastor ihr angeboten hatte, würde sie trotz der Nässe und der matschigen Straße den gesamten Weg nach Heiligenbeil zu Fuß gehen. Von Menschen, die einen Mörder unterstützt und den Rest ihrer Familie verachtet hatten, wollte sie nicht einmal ein trockenes Stück Brot annehmen. Auch war die Heimat, die sie so sehr geliebt und vor einem Vierteljahr nur unter Tränen verlassen hatte, für sie eine Stätte des Todes geworden.
Hufschläge rissen sie aus ihren düsteren Gedanken. Da der Wagen ihr entgegenkam, blickte sie nicht einmal auf, als das Gespann kurz vor ihr langsamer wurde und anhielt. Erst als ein Mann herabsprang und sie bei den Schultern fasste, wurde sie sich ihrer Umgebung wieder bewusst.
»Lore! Wie schön, dich gleich hier zu treffen. Das erspart uns viel Zeit. Komm, steig auf! Wir werden bei der nächsten Gelegenheit wenden, und dann geht es in die Freiheit.«
»Frido!« Lore ließ ihren Koffer fallen, klammerte sich an ihren Onkel und ließ den Tränen freien Lauf. »Es war so entsetzlich!«
»Was?«
Da Lore nicht gleich antwortete, schüttelte Fridolin sie.
Konrad packte ihn bei den Schultern. »Lassen Sie sie in Ruhe, Herr von Trettin! Wenn Lore so außer sich ist, muss einiges passiert sein. Wir haben sie ja beide auf der
Strathclyde
erlebt, und von Nati wissen wir, wie tapfer sie auf der
Deutschland
war. Ihr muss etwas Schreckliches zugestoßen sein. Daher sollten wir warten, bis sie sich beruhigt hat.«
Lore hob den Kopf und sah zuerst Fridolin und dann Konrad an.
»Ottokar von Trettin ist tot. Sein Kutscher hat zuerst ihn und dann sich selbst erschossen!«
»Florin? Der arme Kerl hat es also nicht mehr ertragen können.« Fridolin nahm seinen Hut ab und sprach ein kurzes Gebet für den Knecht.
Dann fasste er Lore um die Taille und hob sie auf den Wagen, den Konrad und er sich in Heiligenbeil gemietet hatten. Konrad griff nach dem Koffer und stellte ihn auf die Ladefläche, schlang eine Decke um das Mädchen und nahm wieder die Zügel in die Hand.
Fridolin setzte sich neben Lore und hielt sie fest. »Beruhige dich, Kleines! Jetzt wird alles gut!«
VII.
Mehr als ein Monat war seit jenen Tagen in Ostpreußen verstrichen. Lore saß in einem Sessel im Stadthaus der Familie Retzmann in Bremen über eine Näharbeit gebeugt, während Nati am Tisch ihre Schularbeiten machte. Es fiel der Kleinen nicht leicht, so lange still zu sitzen, doch sie kniff die Lippen zusammen und machte weiter, um ihre Freundin nicht zu enttäuschen.
Als sie endlich fertig war, sah sie auf und stupste Lore vorsichtig an. »Hier! Willst du dir ansehen, ob ich Fehler gemacht habe?«
»Natürlich.« Lore nahm das Blatt und las es durch. »Sehr gut! Jetzt musst du nur noch in Mathematik und Geschichte besser werden, dann ist Dorothea mit dir zufrieden.«
»Sie ist auch so zufrieden«, erklärte Nati mit Nachdruck.
Um Lores Lippen zuckte ein Lächeln. Im Großen und Ganzen stimmte das auch. Die Kleine hatte einige frühere Unarten abgelegtund lernte fleißig, ohne sogleich Wutanfälle zu bekommen, wenn ihr etwas nicht passte.
»Jetzt müssten wir nur noch den Drachen Ermingarde und ihre Nebendrachen loswerden, dann wird das Leben richtig schön«, fuhr Nati fort.
»Das könnte es wirklich sein!« Lore seufzte, denn Ermingarde Klampt war tatsächlich die Schlange in ihrem Paradies.
Die Dame wohnte noch immer mit ihrer Nachkommenschaft im Westflügel des Palais und dachte gar nicht daran, sich daraus vertreiben zu lassen. So als wäre nichts geschehen, spielte sie die Dame des Hauses, empfing Besucher und sprach bereits von den Festen, die sie ausrichten wollte, sobald die engere Trauerzeit um den toten Grafen verstrichen war. Außerdem sei sie, so verkündete sie überall, für die Erziehung ihrer kleinen Verwandten verantwortlich, und nicht die völlig ungeeignete Person, die Thomas Simmern eingestellt habe.
»Sie sucht immer noch nach einem Mittel, Onkel Thomas zu vertreiben und ihren Gerhard an seine Stelle zu setzen. Außerdem gibt sie zu viel Geld für sich aus!« Nati wiederholte erneut sämtliche Fehler, die Ermingarde Klampt in Dorothea Simmerns Augen haben sollte, und setzte noch ein paar weitere hinzu. »Die Frau ist einfach ekelhaft! Als du aus Ostpreußen zurückgekommen
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